26. Jahrgang | Nummer 4 | 13. Februar 2023

West- und Ostwind

von Holger Politt

Friedrich Engels bekräftigte 1890 aus Sicht der „europäischen Arbeiterpartei […] ein doppeltes Interesse am Sieg der russischen revolutionären Partei“. Es ging ihm um „die Drohung und Gefahr für uns“, die vom Zarenreich bereits durch dessen Existenz ausgehe, vor allem aber um die „unaufhörliche Einmischung in die Angelegenheiten des Westens“, die einen „Sieg des europäischen Proletariats unmöglich machen würden“. Klare Worte, klarer Gedanke. Über die Skepsis bezüglich der Möglichkeiten der „russischen revolutionären Partei“ brauchen hier keine Worte verloren werden. Noch 1892 schrieb Engels deshalb im Vorwort zur zweiten polnischen Ausgabe des „Manifests der Kommunistischen Partei“, dass „die Arbeiter des ganzen übrigen Europas […] die Unabhängigkeit Polens ebenso nötig wie die polnischen Arbeiter selbst“ haben. Der alte Gedankengang, den bereits Karl Marx immer wieder vorgebracht hatte: Die Wiederherstellung eines unabhängigen Polens als entscheidendes Mittel, den europäischen Einfluss des Zarentums zurückzudrängen, weil es an einer sonstigen Umsturzgefahr im Riesenreich noch mangele.

Nur wenige Zeit später – und zwar ab Sommer 1893 – brachen Rosa Luxemburg und Leo Jogiches gründlich mit dieser Vorstellung, denn sie setzten auf den kommenden Erfolg einer Arbeiterrevolution im Zarenreich. Während die 1892 gegründete Polnische Sozialistische Partei (PPS) fest an den Positionen von Engels festhielt, also ein unabhängige Polen zum programmatischen Ziel erhob, suchte die 1893 ins Leben gerufene Sozialdemokratie des Königreich Polens (SDKP, später SDKPiL) den anderen Weg. Die schmerzlichen Erfahrungen im 19. Jahrhundert lehrten, so Rosa Luxemburg und Jogiches, dass die Zeit der nationalen (also polnischen) Aufstände gegen die Zarenherrschaft abgelaufen sei, dass es überhaupt unmöglich geworden sei, mit Aufstandsmethoden ein unabhängiges Polen aus Russland herauszuschlagen, so dass nur noch der eine Weg bleibe, eine schlagkräftige revolutionäre Arbeiterbewegung im gesamten Zarenreich zu schmieden, um das Zarentum zu stürzen und politische Freiheit – wie anderswo in Europa bereits üblich – durchzusetzen.

In der PPS wurde der von Marx und Engels angelegte Faden ganz einfach fortgesponnen: Auf absehbare Zeit werde kaum zu erwarten sein, dass im eigentlichen Russland eine revolutionäre Bewegung heranreifen werde, die in der Lage sei, die Zarenherrschaft ins Wanken zu bringen und schließlich zu stürzen. Anders nun die Sozialdemokraten aus dem zum Zarenreich gehörende Teil Polens: „Die Zarenregierung, der Tyrann schwankt und zittert in seinen Fundamenten. Vereinen wir unsere Kräfte und stürzen ihn in den Abgrund.“ Das schrieben Rosa Luxemburg und Jogiches zehn Jahre vor Ausbruch der Arbeiterrevolution 1905, die sie als erste unter den europäischen Sozialisten antizipiert hatten, zu einer Zeit jedenfalls, als kaum jemand auf eine schlagkräftige russische Arbeiterbewegung gewettet hätte. Sie setzten für ihr verwegenes politisches Programm allerdings voraus, dass es zu einem engen Zusammenschluss der polnischen wie russischen Arbeiterbewegung im Zarenreich komme.

Kein anderes geschichtliches Ereignis hatte die Ansichten, wie sie Rosa Luxemburg und Jogiches vertraten, so bestätigt wie die Revolution von 1905/06. Neben den russischen Arbeiterzentren in Petersburg, Moskau und in Südrussland waren vor allem die polnischen Industriezentren – Warschau, Łódź und Sosnowiec – von ausschlaggebender Bedeutung. Beide glaubten fest an den kommenden Sieg der Revolution, erwarteten im Laufe des zweiten Revolutionsjahres jenen Moment des Durchbruchs, an dem alle bereits aufgetretenen einzelnen Elemente zusammengeführt den Sturz der Zarenmacht erzwingen werden, so dass das Tor weit aufgestoßen wird für die politische Freiheit im ganzen Reich: „Was bedeutet es, die politische Freiheit einzuführen? […] Bisher hatte in allen Revolutionen die Bourgeoisie den leergewordenen Platz der alten Regierung besetzt. Das ist in der jetzigen Revolution die Aufgabe der bewussten Arbeiterklasse. Sie ist es, die mit ihrem Blut den kommenden Sieg der Revolution bezahlt hat und bezahlt, sie muss nun zum ersten Mal auch die Früchte ihres Siegs an sich reißen, sie muss die Regierung in die Hände bekommen.“

In der von beiden konzipierten und von Rosa Luxemburg abgefassten Schrift „Zur Konstituante und zur Provisorischen Regierung“ (1906) werden entscheidende Bedingungen entwickelt, die für jeden weiteren Weg heraus aus der bestehenden kapitalistischen Gesellschaft unabdingbar seien: Die Phase der von der provisorischen Arbeiterregierung ausgeübten Diktatur des Proletariats zeitlich so kurz wie möglich halten, um vor allem zu erwartenden bewaffneten Widerstand brechen zu können. Während der Diktatur des Proletariats bleiben Meinungs-, Versammlungs- und Organisationsfreiheit erhalten, werden nicht außer Kraft gesetzt. Eine der vordergründigen Aufgaben der provisorischen Arbeiterregierung besteht in der gründlichen Vorbereitung freier Wahlen nach allgemeinen und gleichen Stimmrecht zur Verfassungsgebenden Versammlung, zur Konstituante. Ein Machterhalt ohne freie Wahlentscheidung und bei Einsatz aller möglich scheinenden Gewaltmittel ist in dieser Logik undenkbar.

Rosa Luxemburg und Jogiches hatten ihre russischen Kampfgenossen frühzeitig davor gewarnt, den Weg heraus aus der bestehenden Gesellschaft nach dem Sturz der Zarenherrschaft alleine – also ohne das feste Bündnis mit der westeuropäischen Bewegung – versuchen zu wollen. Alleine – so waren sie überzeugt – werde es in Russland nicht gelingen, die in langen Jahrhunderten tief in die Gesellschaft eingefressenen Strukturen der Zarenherrschaft gründlich auszumerzen. Die unheimliche Rückkehr eines roten Zaren in Gestalt des machtbesessenen Generalsekretärs hat sie später leidvoll bestätigt.

Der Beitrag knüpft an den von Wolfgang Brauer ausgegrabenen Text von Friedrich Engels an: „Die auswärtige Politik des russischen Zarentums“ (Blättchen, 3/2023).