Vor dem Ukraine-Krieg war der Philosoph Jürgen Habermas, Jahrgang 1929, die moralische Instanz des bundesdeutschen Linksliberalismus. Er galt als alter, weiser Mann, der sich bedächtig und seriös um den Frieden und die Freiheit sorgte, als einer der wenigen Wissenschaftler, die in der Lage sind, sich in politische Debatten einzumischen, ohne peinlich zu sein. Meistens versuchte er den Beweis zu führen, dass sich gesellschaftliche Konflikte entschärfen lassen, wenn man sie zum allgemeinen Wohlgefallen verrechtlicht. Zuhören, entspannen, nachdenken – so lautete ungefähr seine Idealvorstellung, damit sich das bessere Argument durchsetzen könne. Als wäre das politische Leben eine große Talkshow, in der es aber rational und gerecht zugeht. Davon handelt auch sein Hauptwerk, die »Theorie des kommunikativen Handelns«, das er vor über 40 Jahren veröffentlichte.
Und nun muss Habermas erfahren, dass gegen ihn kommunikativ gehandelt wird. Am 14. Februar erschien von ihm ein langer Aufsatz in der Süddeutschen Zeitung, in dem er sich für Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland aussprach. Das kam in der sogenannten Qualitätspresse gar nicht gut an. Er habe wohl keine Ahnung und schon gar nicht vom Osten, hieß es, so, als sei Habermas zwar sehr alt, aber nicht mehr länger weise. Im Prinzip ein Mann des Feindes. Allen voran twitterte der notorisch stimmungsvolle ukrainische Ex-Botschafter und Vize-Außenminister Andrij Melnyk: „Dass auch Jürgen Habermas so unverschämt in Putins Diensten steht, macht mich sprachlos. Eine Schande für die deutsche Philosophie. Immanuel Kant und Georg Friedrich Hegel würden sich aus Scham im Grabe umdrehen.“
Was Habermas nicht bedacht hatte: Bei bestimmten Fragen, wie zum Beispiel denen des Eigentums oder der Aufrüstung zählt nicht das bessere Argument, sondern die bessere Beschimpfung. Zwar hatte Habermas in seinem Aufsatz dem Ansatz zugestimmt, dass die Ukraine den Krieg nicht verlieren dürfte, sich aber der beschwörenden Worte verweigert, wie sie der litauische Außenminister geäußert hatte: „Wir müssen die Angst davor überwinden, Russland besiegen zu wollen.“ Wie soll das auch gehen, fragt sich Habermas. Er ist sich sicher, „dass ein langer Krieg noch mehr Menschenleben und Zerstörungen fordert und uns am Ende vor eine ausweglose Wahl stellt: entweder aktiv in den Krieg einzugreifen oder, um nicht den ersten Weltkrieg unter nuklear bewaffneten Mächten auszulösen, die Ukraine ihrem Schicksal zu überlassen“. Beides lehnt er ab und schlägt die „Wiederherstellung des status quo ante vom 23. Februar 2022“ vor, was ihm in den Qualitätsmedien als naive bis zynische Idee ausgelegt wird.
1968 erschien ein Sammelband „Die Linke antwortet Jürgen Habermas“. Davon kann heute keine Rede mehr sein, weil es diese Linke mit ihren revolutionären statt reformistischen Forderungen nicht mehr gibt. Die meisten haben sich freiwillig zur Front gemeldet, rein ideell natürlich, vor dem Rechner im Wohnzimmer. Habermas aber ist sich sicher, dass der Krieg zunehmend „als zermalmende Gewalt“ erfahren werden wird und „umso deutlicher drängt sich dieses Nichtseinsollen des Krieges auf“.
nd.derTag, 17.02.2023. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlags.
Schlagwörter: Christof Meueler, Friedensverhandlungen, Jürgen Habermas, Krieg, Russland, Ukraine