26. Jahrgang | Nummer 5 | 27. Februar 2023

Im Ringen um den richtigen Weg

von Detlef-D. Pries

Das Unvorstellbare, das Unfassbare ist geschehen: Seit dem Morgen des 24. Februar ist wieder Krieg in Europa.“ So hieß es im Editorial des Blättchens vor einem Jahr. Wer kann von sich behaupten, er habe einen solchen neuerlichen Ausbruch von „großrussischem Chauvinismus“ vorhergesehen?
Inzwischen geht das mörderische Unternehmen des russischen Präsidenten bereits in sein zweites Jahr, ohne dass ein Ende des Blutvergießens und des Leidens abzusehen wäre. Für den ersten Jahrestag des Überfalls – vor Redaktionsschluss dieser Blättchen-Ausgabe – waren in Berlin etliche Friedensdemonstrationen angemeldet. Am Tag zuvor, da diese Zeilen geschrieben werden, ist nur zu hoffen, dass wenigstens die friedlich bleiben.

Putin hat mit seinem Befehl zum Angriff auf die Ukraine und die Ukrainer einen eklatanten Bruch des Völkerrechts verschuldet, daran kann kein Zweifel bestehen. Auch Verweise auf die Vorgeschichte des Krieges relativieren seine Schuld nicht. Was nicht besagen soll, dass solche Verweise unzulässig seien. Es wird nicht zum Putin-Freund, zum Propagandisten der Kreml-Politik, wer an den Kurs der USA und der NATO gegenüber Russland nach dem vermeintlichen Ende des Kalten Kriegs erinnert und ihm einen Anteil an der heutigen Misere zuweist. Ich erinnere mich beispielsweise an eine Journalistenreise ins Brüsseler NATO-Hauptquartier vor knapp 30 Jahren. Es war die Zeit, da die NATO ihre „Partnerschaft für den Frieden“ ins Leben rief, der auch Russland – widerstrebend zwar – beitrat. Ein offenes Geheimnis war indes, dass einige Unterzeichnerstaaten diesen Verbund für militärische Zusammenarbeit als ihren ersten Schritt zum NATO-Beitritt betrachteten. Auf die Frage, ob man denn glaube, beispielsweise Polen, Ungarn, Tschechien in die NATO aufnehmen zu können, ohne Russland einzubeziehen, lautete die Antwort des NATO-Referenten: Das gehe sogar nur ohne Russland. Er gab zu: „Wer einschließt, der schließt auch aus.“ Von Gleichheit und Gleichberechtigung also keine Rede. Sprach das für ein Ende des Kalten Krieges? Und dies in einer Zeit, als man sich zumindest vage noch an Gorbatschows Traum vom gemeinsamen Haus Europa erinnerte.

Alles keine Rechtfertigung für den russischen Überfall auf die Ukraine. Richtig! Nicht nur, dass Putin und sein Gefolge die Ukraine mit unermesslichem Leid überziehen, dass er junge Landsleute zu Tausenden in einen sinnlosen Tod schickt. Die Gefahr ist groß, dass der Krieg Grenzen überschreitet, und nicht nur regionale. Wie kann man einen Despoten als verbrecherisch brandmarken und zugleich darauf setzen, dass er sich – in die Enge getrieben – nicht wie ein Verbrecher verhält?

Offenkundig ist jedenfalls, dass diese Konfrontation längst eine globale Dimension angenommen hat. Umso dringlicher ist, dass „darüber gesprochen [wird], wie wir aus diesem Krieg wieder herauskommen“, wie wir im Blättchen-Editorial vor einem Jahr schrieben. Sprechen, diskutieren, auch streiten – das heißt nicht, den Krieg auf sprachlicher Ebene fortzusetzen. Doch scheinen auch hierzulande mittlerweile alle Grenzen sprachlicher Zurückhaltung gesprengt zu sein. Menschen, die noch unlängst jede Hassrede beklagt haben, scheuen nicht mehr davor zurück, und nicht nur in den pseudosozialen Medien.

Da haben zwei Frauen, Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht, beide nicht unanfechtbar, ein „Manifest für den Frieden“ verfasst. Das wurde bis zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe von fast  620.000 Menschen unterzeichnet. Schwarzer, Wagenknecht, ihre namhaften und ihre namenlosen Unterstützer warnen vor einer „Rutschbahn Richtung Weltkrieg und Atomkrieg“, sie rufen dazu auf, den Krieg durch Verhandlungen zu beenden, und appellieren an Bundeskanzler Olaf Scholz, sich „an die Spitze einer starken Allianz für einen Waffenstillstand und für Friedensverhandlungen“ zu setzen. Einer von Emma veröffentlichten repräsentativen INSA-Umfrage zufolge (Basis 2000 Personen) sind 39 Prozent der Deutschen für das Manifest, 38 Prozent dagegen, der Rest gleichgültig oder uninformiert.

Derweil ergießt sich über die Initiatorinnen in Interviews und Kommentaren eine Welle von Schmähungen und Beschimpfungen: Naiv, zynisch, gewissenlos, amoralisch, politisch obszön seien sie und ihr Aufruf. Sahra Wagenknecht wurde in der ZDF-Sendung „Markus Lanz“ gar beschuldigt, sie werde von Putin bezahlt. Lanz selbst kam freilich nicht umhin, sie gegen diesen Vorwurf zu verteidigen.

Heribert Prantl sagte in einem NDR-Kommentar: „Es ist fatal, wenn Wörter wie Kompromiss, Waffenstillstand und Friedensverhandlungen als Sympathiekundgebungen für Putin gelten und so ausgesprochen werden, als wären sie vergiftet.“ Sein Plädoyer: „Wenn einer […] den Frieden ernst nimmt und den richtigen Weg zu diesem Frieden sucht, ist das ernst zu nehmen auch dann, wenn man selbst einen anderen Weg für richtig hält.“ Wer in der Demokratie Alternativlosigkeit behaupte (etwa die von Waffenlieferungen), wolle die Wahrheit für sich pachten „und setzt sich selbst ins Unrecht, weil er damit sagt, dass er nicht diskutieren will.“ Man müsse aber diskutieren und „um den richtigen Weg ringen“.

Fragen und Zweifel sind nur zu verständlich: Darf man den Krieg durch die Lieferung immer stärkerer und zerstörerischer Waffen verlängern und aufheizen? Andererseits: Darf man die Ukraine schutzlos und waffenlos dem mächtigen Gegner ausliefern? Es gibt für beide Positionen rationale und emotionale, moralische Begründungen. Im Freitag warb die Schriftstellerin und Journalistin Elsa Koester zu Jahresbeginn für mehr Mut zur Ungewissheit. Alle wüssten immer ganz genau, was zu tun ist. „Ich weiß gar nichts mehr […] Ich zweifle an den Waffenlieferungen, und ich zweifle am Frieden.“ Ihr Plädoyer: „Im Krieg für den Zweifel“.

Zum Schluss: Meinungsunterschiede spiegeln sich auch im Blättchen wider, schon gar im Forum dieser Publikation. Wir halten das aus und bitten Leserinnen und Leser, sie ebenso auszuhalten. Niemand muss jeder Zeile und jeder Aussage zustimmen, aber ernst sollten sie genommen – und gegebenenfalls im eigenen Urteil berücksichtigt werden.