Das Unvorstellbare, das Unfassbare ist geschehen: Seit dem Morgen des 24. Februar ist wieder Krieg in Europa. Ein Krieg, der bei weiterer Eskalation auch nuklear werden könnte. Ein Krieg, in dem ein Land zermahlen wird, dessen Politiker weiß Gott nicht die Engel auf Erden sind – aber es geht um ein Volk, das in den vergangenen 100 Jahren einen entsetzlichen Blutzoll zahlen musste. Erst unter Stalin, vor allem aber in jenem, von uns Deutschen angezettelten Krieg, in dem acht Millionen Ukrainer starben. Deren Kinder, Enkel und Urenkel wollen keinen Krieg.
Da gibt es ein Lied, das uns immer wieder die Tränen in die Augen trieb. Wer in der DDR aufwuchs, wird es kennen. Es wurde 1961, als der Kalte Krieg wieder einmal fast in einen „heißen“ umzuschlagen drohte, vom russischen Dichter Jewgeni Jewtuschenko geschrieben: „Meinst Du, die Russen wollen Krieg?“ Im Text heißt es: „Frag Mütter, die seit damals grau, / befrag doch bitte meine Frau. / Die Antwort in der Frage liegt: / […] / meinst du, die Russen wollen Krieg?“
Gestern Abend – dieser Text hier wird am Morgen des zweiten Kriegstages geschrieben – stellten weinende Frauen auf den Straßen Kiews Reportern die Frage „Warum greift der uns an, warum bombardiert er uns? Was haben wir ihm denn getan.“ Nichts haben diese Frauen und deren Kinder „ihm“ getan. Die Führung seines Landes hat den Dichter zum Lügner gestempelt. Doch wir sind mit jenen Russen, die das nicht zulassen wollen.
Es ist Krieg. Und trotz des Dröhnens der Kanonenrohre und der Kampfhubschrauber übertönen sich in Ländern, die (noch?) nicht unmittelbar davon betroffen sind, nicht zuletzt bei uns, die medialen Kampfschreiber und -redner in ihren Schuldzuweisungen an Moskau und im Fordern der größtmöglichen, möglichst ewig anhaltenden Strafmaßnahmen gegen den Aggressor. Dass sie damit Benzin in das Feuer blasen, sollte ihnen bewusst sein.
Ja, der Angreifer heißt Russland. Ja, Präsident Putin beging mit seinem Angriffsbefehl einen eklatanten Bruch des Völkerrechts. Daran ist nichts zu deuteln – und ihm ist durch die Völkergemeinschaft Einhalt zu gebieten. Das legitimiert unseres Erachtens jedoch nicht ein noch lauteres Kriegsgeschrei durch den Westen. Es muss darüber gesprochen werden, wie wir aus diesem Krieg wieder herauskommen, bevor er seine derzeitigen regionalen Grenzen überschreitet.
Der Dichter Matthias Claudius schrieb 1779 sein „Kriegslied“: „’s ist leider Krieg – und ich begehre / Nicht schuld daran zu sein!“ Nein, niemand begehrt schuld daran zu sein. Schuldig sind wir dennoch alle. Auch wir selbst. Wir haben immer wieder versucht, auf die Gefahren hinzuweisen. Wir haben die über Jahre eskalierende Politik von US-Administration und NATO immer wieder kritisiert und deren Gefahren offengelegt. Gelegentlich fiel auch bei uns mal ein kritisches Wort an die Adresse der russischen Politik. Gelegentlich und entschieden zu zaghaft. Auch wir haben versagt.
Nicht nur deshalb, aber auch deswegen, stellt sich dieses Heft ausdrücklich dem Thema „Krieg in der Ukraine“. „Kommt, reden wir zusammen / wer redet, ist nicht tot …“, sagt Gottfried Benn in „Kommt – “.
Noch kann man miteinander reden, noch …