Unmittelbar nach der Veröffentlichung von Romain Rollands „Brief an jene, die mich anklagen“ durch Wolfgang Klein im Blättchen-Heft 22/2022 erreichte mich ein dicker Brief der Münchener Autorin Angelika Gutsche. Darin lag – als Antwort auf Kleins Text – ihre Auswahl der Tagebucheinträge Rollands aus den Jahren 1914 bis 1919. Angelika Gutsche nahm diese auf der Grundlage der rund 2000 Seiten umfassenden, in der Originalausgabe noch von Rollands Ehefrau betreuten, zweibändigen Ausgabe „Zwischen den Völkern“ (Stuttgart 1954/1955) vor. Der seinerzeitige Titel war einerseits glücklich gewählt – der Pazifist Romain Rolland nahm für keine der kriegführenden Mächte Partei. Er hält die wiederholte Bombardierung Freiburgs durch französische Flieger für einen genauso barbarischen Akt wie die Zerstörung der Kathedrale von Reims durch deutsche Artillerie. Andererseits stand Rolland nie „zwischen den Völkern“. Gutsches Auswahl macht deutlich, dass dieser große Humanist immer auf Seiten der Völker, aber gegen die Politik der Herrschenden stand. Entsetzt über den Hurrapatriotismus und die chauvinistischen Ausfälle von ihm bis dato hoch geschätzter deutscher Intellektueller – „[…] sollte ich Thomas Mann je begegnen, […], so werde ich mich weigern, ihm die Hand zu reichen“ – ist er nicht minder enttäuscht über das Verhalten seiner Landsleute: „Unsere französischen Intellektuellen begnügen sich nicht damit, den Krieg zu feiern und ihn zu schüren; sie verlangen auch noch, daß er ewig währe.“ Es sind andere, denen er eng verbunden ist: Hermann Hesse, Stefan Zweig, Wilhelm Herzog, Albert Einstein, Eduard Fuchs, Albert Schweitzer …
Übrigens sah Rolland sehr genau, wie Polen und die Ukraine als Spielball der divergierenden Großmachtinteressen – selbst zwischen den Mächten der Entente! – missbraucht wurden („Die Erpressungen Rußlands in Galizien und Polen waren ein Verbrechen gegen die alliierte Sache […]“). Rolland, auch das macht den Wert der Auswahl Gutsches aus, geht über das Level der moralischen und politisch basierten Empörung hinaus. Er registrierte akkurat, wer am großen Krieg – und wieviel! – verdiente. Und er teilt offenbar die Einschätzung unabhängiger Wirtschaftswissenschaftler, „daß das erschöpfte und verbrauchte Europa bei Friedenssschluß wirtschaftlich von den Vereinigten Staaten abhängen wird“. 1916! Spannend sind Rollands Notizen über die russische Revolution, auf die er trotz des „maßlos starrköpfigen Charakters“ Lenins große Hoffnungen setzt. Ansonsten ist sein Verhältnis zu Russland durchaus ambivalent. Rolland bewundert die russische Kultur, er ist Anhänger Lew Tolstois und mit Maxim Gorki befreundet. Aber: „Rußland birgt ebensoviel Böses wie Gutes, und es ist nicht immer fähig, zwischen beiden zu wählen.“
Angelika Gutsches Band ist de facto „nur“ eine Zitatensammlung – aber was für eine! Sie ermöglicht es, das Ringen des Literaturnobelpreisträgers von 1915 für ein gemeinsames Vorgehen aller europäischen Kriegsgegner nachzuvollziehen. Romain Rollands Eintragungen lesen sich zutiefst heutig. Ich bin der Herausgeberin sehr dankbar.
Angelika Gutsche (Hrsg.): Romain Rolland. Der Erste Weltkrieg aus Sicht eines Pazifisten. Aus den Tagebucheintragungen 1914-1919, aus dem Französischen von Ré Soupault, Hohenwarsleben 2021, Westarp BookOnDemand, 298 Seiten, 18,95 Euro.
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2021 legten unser Autor Ulrich Kaufmann und der Jenenser Literaturwissenschaftler Harald Heydrich einen beeindruckenden Auswahlband mit Texten von und über den Dichter Louis Fürnberg vor: „Hier ist ein Dichter, hört nur!“. Jetzt erschien bei quartus ein weiterer Band mit Fürnberg-Texten, den die beiden unermüdlichen Verteidiger der Poesie zusammenstellten. Biographisch konzentrieren sie sich auf die letzten Lebensjahre des Dichters. Louis Fürnberg starb 1957 mit 48 Jahren im thüringischen Weimar, in das er mitsamt Familie erst drei Jahre zuvor aus Prag übersiedelte. Das war genaugenommen eine Flucht. Die dritte im Leben Fürnbergs, nachdem er 1939 den Fängen der Gestapo entkommen konnte und 1946 Palästina – in dem er mitnichten heimisch werden konnte – in Richtung böhmische Heimat wieder verließ. Über die Umstände des Weggangs aus Prag 1954 berichtet Jan Gerber im erwähnten 2021er Buch. Und wer immer noch nicht versteht, was seinerzeit passiert ist, sollte sich Ruth Zylbermans Dokumentation (2021) über den Slánský-Prozess ansehen. Zylberman arbeitet mit den originalen Filmaufnahmen des Schauprozesses. Als linker Intellektueller nimmt man diese Filmdokumente nur mit gefrierendem Blut wahr…
Louis Fürnberg jedenfalls suchte aus guten Gründen einen neuen „Ort“. Weimar schien ihm eine gute Wahl. Er sollte sich irren. Noch kurz vor seinem Sterben dachte er darüber nach, möglicherweise nach Dresden umzuziehen. Die Herausgeber beenden den Titel ihres Buches denn auch mit einem Fragezeichen: „Das schöne Weimar?“. Fürnbergs Tochter Alena hat ihren gleichnamigen Erinnerungsaufsatz im Sammelband nicht mit einem solchen versehen.
Kaufmann und Heydrich lösen diesen nur scheinbaren Widerspruch auf, indem sie Fürnbergs letzte Tagebuchaufzeichnungen an den Anfang ihres Buches stellen. Die umfassen die Zeit vom 27. Februar 1957 bis zum 13. Juni desselben Jahres. Zehn Tage nach seinem letzten Eintrag starb der Dichter. Er wolle über „meine Zeit Buch führen“, vermerkt er gleich zu Beginn seiner Notizen. Das macht er nicht. Er schreibt natürlich über sich, über seine verzweifelten Versuche, als Poet überleben zu können – in einer Situation, die von außen nach real-sozialistischem Wohlgefallen aussehen musste, tatsächlich aber für ihn eine Art Vorhof der Hölle war.
In Weimar bleibt Fürnberg selbst die Wiederbegegnung mit Leuten nicht erspart, die ihn in Prag erbittert bekämpft hatten und zum Auslöser seines Weggehens wurden. Von Viliam Široký beispielsweise, seinem ehemaligen Vorgesetzen im diplomatischen Dienst der Republik, inzwischen war der Ministerpräsident der Tschechoslowakei, musste er sich als „Symbol der tschechoslowakisch-deutschen Freundschaft“ bezeichnen lassen. Politisch gesehen stimmte das irgendwie, persönlich muss Fürnberg die Lobeshymne des stalinistischen Hardliners, der ihm wenige Jahre zuvor durchaus ans Leben wollte, als Verhöhnung empfunden haben. Aber gleichzeitig beklagt der Dichter die „mangelnde Bindung [vieler Künstler] an die Partei“…
„Ich bin allein, ich bleib allein, / Ein Kerzlein, das nicht lange brennt …“ heißt es in Fürnbergs großem Kafka-Gedicht „Leben und Sterben F. K.s“ (1957). Er meinte wohl auch sich selbst. Nicht zufällig nimmt die Auseinandersetzung mit Frank Kafka – und damit auch mit Max Brod! – in seinen letzten Lebensmonaten einen wichtigen Platz ein. Das Gedicht findet sich im vorliegenden Band, zusammen mit einem unter der Kapitelüberschrift „Lesart“ verorteten klugen Essay Harald Heydrichs über die zutiefst ambivalente Beziehung Fürnbergs zu Franz Kafka. Heydrich nähert sich beiden behutsam an. Für Literaturwissenschaftler ist solch ein Herangehen durchaus ungewöhnlich. Die Germanistik neigt eher zum Postulieren denn zum Infragestellen.
Letzteres zeichnet aber nicht nur die Aufsätze der beiden Herausgeber aus, es zieht sich durch (fast) alle Beiträge des Bandes. Mir scheint dies die einzig sinnvolle Annäherungsweise an das Werk und die Biographie eines Dichters zu sein, dessen Arbeiten noch lange nicht mit dem Stempelaufdruck „erledigt“ in den Archivkeller der deutschen Literatur gehören.
Und einen ganz persönlichen Dank möchte ich den Herausgebern noch abstatten: Sie machten mich (über Fürnberg) auf das Werk des tschechischen Komponisten Jaroslav Ježek und das Prager Osvobozené divadlo, das „Befreite Theater“, aufmerksam. Wie wenig wissen wir doch über unsere Nachbarn …
Ulrich Kaufmann / Harald Heydrich (Hrsg.): Das schöne Weimar? Louis Fürnbergs letzte Jahre.Unter Mitarbeit von Alena & Michael Fürnberg, quartus-Verlag, Bucha bei Jena 2022, 207 Seiten, 19,90 Euro.
Schlagwörter: Angelika Gutsche, Erster Weltkrieg, Harald Heydrich, Louis Fürnberg, Romain Rolland, Ulrich Kaufmann, Weimar, Wolfgang Brauer