26. Jahrgang | Nummer 5 | 27. Februar 2023

Bemerkungen

Sprachbildung

In der Reihe „Debattenbücher“ publiziert der Dudenverlag ein anregendes Büchlein unter dem Titel „Sprachbildung für alle! Eine Streitschrift“ von Juliana Goschler. Die Linguistin Goschler lehrt und forscht an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Dort hat sie eine Professur für Deutsch als Fremdsprache / Deutsch als Zweitsprache. Ihr Debattenband will den Zusammenhang zwischen sprachlichen Fähigkeiten und Bildungserfolg deutlich machen. Außerdem plädiert er für die sprachliche Bildung aller an der Bildung Beteiligten: Pädagogen, Erzieher, Sozialarbeiter und Eltern.

Grundlegende Sprachfähigkeiten sind Voraussetzung für Bildungsprozesse. Das gilt für alle Unterrichtsfächer, nicht nur für die sozial- und geisteswissenschaftlichen, sondern auch für sogenannten MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik). Das mag eine Binsenweisheit sein und allgemeiner Erfahrung entsprechen, muss aber den Unterrichtenden bewusst werden. Goschler fordert auch für deren berufliche Weiterbildung die Weiterentwicklung ihrer sprachlichen Fähigkeiten. Man dürfe nicht darauf vertrauen, dass sich das Bildungsbürgertum selbst reproduziert. Sprachkompetenz, verstanden als Fähigkeit, sich in verschiedenen sozialen Zusammenhängen jeweils passend auszudrücken, sieht sie als wichtige Visitenkarte. Ursachen für mangelnde Bildungserfolge bestimmter Gruppen findet die Autorin eher in sozioökonomischen Faktoren und nicht vereinfacht nur in Migrationshintergründen.

Goschler unterscheidet verschiedene sprachliche Varietäten wie Fachsprachen, Bildungssprache und Alltagssprache. „Lassen wir Sprachbildung weiter Privatsache sein, werden wir als Gesellschaft nicht die Menge an qualifizierten und rundum gebildeten Menschen hervorbringen, die möglich wäre – und die wir auch benötigen.“ Sprachbildung ist also für sie Aufgabe aller Bildungsinstitutionen, auch der sogenannten höheren Bildungseinrichtungen.

Wie kann man dieser Aufgabe gerecht werden? Die Autorin schlägt zum Beispiel vor, sprachliche Bildung in die Fachlehrerausbildung und -weiterbildung zu integrieren. Fachlehrer müssen an der Verknüpfung sprachlicher und fachlicher Kompetenzen ihrer Schüler arbeiten. Mehr Lehrer sind einzustellen und die Klassen zu verkleinern. Von der Idee, die sprachliche Bildung zuvorderst bei den Eltern anzusiedeln, hält die Autorin wenig. „Es ist eine Aufgabe, der sich die Gesellschaft stellen muss, indem sie dem Bildungsbereich mehr Priorität – und das bedeutet letztlich mehr Geld – einräumt.“

Von einer „Streitschrift“ hätte ich mir als Leser mehr Kontroverse erhofft. Insgesamt ist sie gut lesbar geschrieben. Allerdings: Dutzendfach von „Schüler/ -innen“ zu lesen, ist einfach ermüdend, als ob Leser nicht wüssten, dass Schüler verschiedene Geschlechter haben können. Selbst laut DUDEN bedeutet der Begriff „Schülerschaft“ die „Gesamtheit der Schüler und Schülerinnen (einer Schule)“, warum die Autorin an einer Stelle sogar von „Schüler/ -innenschaft“ schreibt, erschließt sich nicht. Es verursacht eher Bauchschmerzen. Die Redaktion des Buches übernahm DUDEN-Chefredakteurin Dr. Kathrin Kunkel-Razum. Die Verlagsankündigung verspricht einen Text mit 80 Seiten, das fertige Exemplar umfasst nur 62. Das sind mehr als 20 Prozent weniger.

Jürgen Hauschke

Juliana Goschler: Sprachbildung für alle! Eine Streitschrift, Dudenverlag, Berlin 2023, 62 Seiten, 10,00 Euro.

 

Wiederentdeckung eines Nachkriegsromans

Der österreichische Schriftsteller Reinhard Federmann (1923-1976) war Mitglied der Gruppe 47 und in seinen letzten Lebensjahren sogar Generalsekretär des österreichischen PEN-Clubs. Trotzdem sind er und sein Werk heute fast vergessen. Seine literarischen Arbeiten passten nicht in das Klischee der österreichischen Nachkriegsliteratur –0 vor allem sein politischer Roman „Das Himmelreich der Lügner“ (1959), der den Holocaust und die Beteiligung von Österreichern daran thematisierte, stand für eine Literatur, von der man im Österreich der 1950er Jahre nichts wissen wollte.

Nun ist der Roman mit seiner politischen Sprengkraft zum 100. Geburtstag des Schriftstellers in einer Neuauflage des Picus Verlages wieder greifbar. Federmann erzählt die Geschichte des Zeitungskorrespondenten Bruno Schindler, eines politisch aktiven Sozialisten, der mit seinen notdürftig bewaffneten Freunden an den Februarkämpfen von 1934 teilnimmt. Doch der Aufstand ist bereits verloren, ehe er richtig begonnen hat. Dem verspäteten Aufruf zum Generalstreik wird nur sporadisch Folge geleistet. In den ersten Kapiteln des Romans werden der verzweifelte Kampf der Arbeiter und die brutale Zerschlagung der Ersten Republik detailliert geschildert.

Schindler wird am Kopf verletzt. Zunächst kann er sich bei Freunden verstecken, bis es ihm gelingt, über die Tschechoslowakei in die Sowjetunion zu fliehen. Da seine ideologische Standfestigkeit zu wünschen übrig lässt, muss er zunächst einen Hochschulkurs absolvieren. Doch immer mehr gerät er in das Unterdrückungssystem des Stalinismus. In dem zentralen Kapitel „Das Menschenrecht“ – sicher eine Anspielung auf eine Zeile der „Internationale“ – gelingt Federmann eine überzeugende Darstellung der sowjetischen Realität mit gegenseitiger Bespitzelung und einer von Angst und Willkür geprägten Atmosphäre. Schindler wird selbst Opfer einer Denunziation, doch gleichzeitig ist er sich der eigenen Verstrickung in das System bewusst. Als Angehöriger der Roten Armee muss er beispielsweise einen Gefangenentransport bewachen: „Es war meine Pflicht, das Gegenteil von dem, was ich erkannt hatte […] Und als ich mir die scheinbar akademische Frage vorlegte, ob ich das alles im entscheidenden Augenblick wirklich tun würde, sprang mir unversehens die Antwort ins Bewusstsein: Du hast es ja schon getan.“

Nach Kriegsende kehrt Schindler in seine Geburtsstadt zurück, doch der einst ins Exil vertriebene Antifaschist bleibt ein heimatloser Fremdling. Die Amerikaner halten ihn für einen Russen, die Deutschen für einen bemitleidenswerten Österreicher und die Nationalsozialisten für einen unverbesserlichen Kommunisten. Er erfährt, dass sein jüdischer Freund Heinz im KZ vergast wurde, während ein ehemaliger Genosse, der zu den Nazis übergelaufen ist, inzwischen ein geachteter Geschäftsmann ist. Schindler ist entsetzt über die fehlende Entnazifizierung der Gesellschaft. Der soziale Frieden der Zweiten Republik, die eigentlich ein Neubeginn sein soll, wurde nur mit dem Schweigen über die Vergangenheit erkauft. In dem Wiener „Himmelreich der Lügner“ trifft er überall auf Misstrauen und Nichtwissenwollen.

Fast dokumentarisch setzt sich der Roman mit den Mechanismen und Auswirkungen totalitärer Systeme auseinander und hinterfragt die Rolle des Einzelnen. Ein hochpolitischer, berührender Roman, dessen Lektüre sich lohnt.

Manfred Orlick

Reinhard Federmann: Das Himmelreich der Lügner, Picus Verlag, Wien 2023, 544 Seiten, 28,00 Euro.

 

Aus anderen Quellen

„Bezüglich der Ukraine“, sagt der frühere EU-Kommissar Günter Verheugen im Interview, „wurde leider der Fehler gemacht, dass die EU gesagt hat, das Land müsse sich entscheiden zwischen EU und Eurasischer Union. Das war falsch, denn mit der Ukraine als Scharnier hätte die Idee eines Wirtschaftsraums von Lissabon bis Wladiwostok verwirklicht werden können.“ Und auf die Bemerkung des Interviewers, der SPD werde heute der Vorwurf gemacht, dass „Wandel durch Handel“ ein falscher Ansatz gewesen sei: „Das ist nie eine politische Leitlinie gewesen. Es hieß nie ‚Wandel durch Handel‘, sondern ‚Wandel durch Annäherung‘. Das ist wörtlich zu verstehen. Man nähert sich jemandem, um mit ihm über Konflikte und Probleme sprechen zu können.“

Michael Maier: Günter Verheugen – „Willentlich und wissentlich eine Linie überschritten“, berliner-zeitung.de, 11.02.2023. Zum Volltext hier klicken.

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Unter anderem mit der von der neuen israelischen Regierung geplanten Justizreform befasst sich Charles Enderlin und lässt Aharon Barak, von 1995 bis 2006 Präsident des Obersten Gerichtshofs des Landes, zu Wort kommen: „Diese Reform führt die Tyrannei durch die Mehrheit ein und ist eine Gefahr für die Demokratie. Wenn sie umgesetzt wird, wird es im ganzen Land nur noch eine einzige Autorität geben, nämlich die des Premierministers!“ Barak hat im Zusammenhang damit den deutschen Theologen Martin Niemöller zitiert, „der sich von einem Anhänger der Nazis zum Widerstandskämpfer gewandelt hatte und im KZ gelandet war: ‚Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Kommunist … Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.‘“

Charles Enderlin: Israel – die Agenda der Radikalen, monde-diplomatique.de, 09.02.2023. Zum Volltext hier klicken.