Gregor Gysi, Rechtsanwalt – Ein Kind von Klaus und Irene Gysi in Berlin-Johannisthal, begabt mit Ideen und der Fähigkeit, sie auszudrücken, Rinderzüchter mit Abitur, studierter Anwalt, Vorsitzender des Kollegiums der (Ost)Berliner Rechtsanwälte, Freund von Lothar de Maiziere und Friedrich Wolff, Verteidiger von mehr und auch weniger Prominenten und scharfzüngiger Kritiker der gelähmten SED-Führung, cleverer Wegbereiter der großen Demonstration auf dem Berliner Alexanderplatz vom 4. November 1989. Es war eine Zeit der Pastoren und Anwälte, und Ihnen fiel es zu, die herrschende Partei in eine dienende Rolle zu überführen und aus deren noch willigen Resten eine demokratisch verfasste, dem Sozialismus noch verbundene neue Organisation zu schaffen, die bis heute Gewicht hat. Aus dem noch immer gefragten Anwalt wurde ein Reformator, Aufklärer, Politiker, dem auch manche zuhörten, die ganz anders dachten. So trugen Sie zur Kohärenz der bundesdeutschen Gesellschaft bei, die in ihren vernünftigeren Teilen nun zumindest still akzeptiert, dass Sozialisten sie bis in Landesregierungen mitgestalten. Im Gegensatz zu anderen, die kamen und gingen, blieben Sie und arbeiten vielleicht im Moment daran mit, dass die Linke zusammenhält, was sie an gemeinsamen Vorstellungen doch eint. Jene, die meinten, Sie seien ein toller Mann in der falschen Partei, verstanden nicht die Art und Tiefe Ihrer Bindung und verwechselten Ihre geistige Beweglichkeit mit Beliebigkeit. Sie wurden wüst beschimpft, groß verehrt und sind hochgeachtet, denkt man etwa an Ihr heiteres Verhältnis zu Norbert Lammert, der zu Ihrer Verabschiedung als Vorsitzender der Bundestagsfraktion anerkennend von hunderten Reden berichtete, die Sie bis dato gehalten hatten. Reden konnten Sie schon als Zehnjähriger in Johannisthals Waldstraße. Am Tag des Erscheinens dieses Heftes werden Sie erstaunliche 75 Jahre alt, wozu wir herzlich und respektvoll gratulieren.
Wolodymyr Selenskyj, ukrainischer Präsident – Nun gebe es keinen rationalen Grund mehr, Ihrem Land keine schweren Waffen zu liefern, behaupteten Sie, als Frankreich sich einseitig bereit erklärte, leichte Spähpanzer – also keine ganz schweren – zu schicken. Die achtlose Vorsitzende des Verteidigungsausschusses des Bundestages, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, ließ prompt verlauten, dass man nun „loslegen“ könne. Doch, Herr Präsident, es gibt einen Grund: Sie stehen einer imperialen, nuklearen Macht gegenüber, der die Vernunft abhandengekommen ist und die jederzeit in der Lage zu sein scheint, Europa und der NATO einen Krieg zu erklären – mit Waffen, die dazu führten, dass Ihr Land wohl als erstes nicht mehr auffindbar sein könnte. Deshalb, und im Interesse des Vorrangs menschlichen Lebens, muss dieser Konflikt befriedet und nicht ständig eskaliert werden. Das erfordert eine neue Betrachtung diplomatischer Kompromisse, denen man im Frühjahr 2022 nahe zu sein schien – keine Aufgabe, die Sie allein lösen könnten, aber Sie müssten sie ermöglichen. Mit solchem Friedensziel könnte auch der Verteidigungsausschuss „loslegen“, nämlich nachzudenken über die Zukunft: Wie kann man Frieden schaffen ohne Waffen?
Dmitri A. Medwedjew, möglicherweise Zarewitsch – Nachdem Russland einen Waffenstillstand im Ukraine-Krieg während der Weihnachtsfeiertage 2022 ausgeschlagen hatte, quittierte die Ukraine das russische Angebot zum orthodoxen Weihnachtsfest mit einer ebensolchen Ablehnung. Sie kommentieren das auf Ihrem Telegram-Kanal: „Schweine haben keinen Glauben oder ein angeborenes Dankbarkeitsgefühl. Sie verstehen nur rohe Gewalt und fordern von ihren Herren quiekend Fressen. […] Selbst das ungebildete Weib Baerbock und eine Reihe weiterer Aufseher im europäischen Schweinestall haben es geschafft, über die Unzulässigkeit einer Waffenruhe zu meckern.“ Wir sind Ihnen für diese offene Sprache dankbar. So kann wenigstens keiner behaupten, niemand habe gewusst, was auf die Welt zukommt, sollten Sie tatsächlich einmal die Nachfolge Wladimir Putins antreten.
Julian Nida-Rümelin, früher Kulturstaatsminister – Ja sind Sie denn von allen guten Geistern verlassen! Wie können Sie Wahrheiten, die von oben nicht wohl gelitten sind und von den Mainstream-, respektive Qualitätsmedien totgeschwiegen werden, einfach ausplaudern? Und dann auch noch diese: „Es wird zum Beispiel oft gesagt, in der Ukraine würden Freiheit und Demokratie verteidigt, die Werte Europas. Dann schauen wir doch mal in die internationalen Demokratie-Rankings, da steht die Ukraine sehr weit unten. Die Ukraine ist keine entwickelte Demokratie, sie hat ein extremes Maß an Korruptionspraktiken, Oligarchen haben massiven Einfluss, sie hat keine wirklich funktionierende Pressefreiheit, keinen Minderheitenschutz.“ Plus folgender Injurie zur Entwicklung seit Kriegsbeginn: „Die Korruption hat zugenommen in diesem Krieg, die Pressefreiheit hat abgenommen. Die Ukraine ist bislang nicht auf dem Weg in die Demokratie. Alles andere ist ein Beispiel für Realitätsverlust.“ Werter Nida-Rümelin, sollte Sie jemand unter die Querdenker einsortieren, wäre Ihnen zwar unser ganzes Mitgefühl gewiss, aber zuzuschreiben hätten Sie sich das selbst.
Eva Alexandra Ingrid Irmgard Anna Högl, Wehrbeauftragte des Bundestages – In Berlin pfeifen es die Spatzen von den Dächern: Sie sollen offenbar die kompetenz- und glücklose, dafür fettnapfbewährte Christine Lambrecht als Bundesverteidigungsministerin beerben. Nur der Zeitpunkt soll noch offen sein, damit der Entscheider (Olaf Scholz) nicht den schwachen Eindruck vermittelt, er folge der Medienmeute.
Ihre Qualifikation? Sie sind SPD (die besetzt dieses Ministerium) und eine Frau (die muss es laut vereinbartem Geschlechter-Proporz der Ampel sein).
Und sonst? Eintritt bei den Jusos vor dem Abitur (dort ab 1991 stellvertretende Vorsitzende), SPD-Parteibuch seit 1987, Wechsel vom Jura-Studium direkt ins Bundesarbeitsministerium, promoviert in Arbeits- und Sozialrecht. Weitere Berufserfahrungen – keine. Aber als Wehrbeauftragte seit 2000 im Vergleich zu Lambrecht dann doch fast wie vom Fach …
Sollte der Fall eintreten – Glück auf den Weg! Erstes Etappenziel könnte sein, dass sie sich länger im Bendlerblock halten als Ihre Vorgängerin. Die hatte den Job nämlich erst am 8. Dezember 2021 übernommen.
Sebastian Czaja, Berliner FDP-Spitzenkandidat – „Warum bei Neuwahlen die alten Probleme wählen?“, fragen Sie derzeit auf Großplakaten zur Wahl des Berliner Abgeordnetenhauses. Stichwort „alt“. Ihr Wunsch, erneut ins Berliner Parlament einzuziehen, und womöglich auch in den Senat, ist durchaus verständlich. Ausgewählte Berlinerinnen und Berliner baten Sie in persönlich adressierten Briefen um ihre Stimme. Allerdings sind Ihre Adressenlisten offenbar gar zu alt. Eine der Redaktion bekannte Mitbürgerin trägt den Namen, unter dem sie angeschrieben wurde, schon seit drei Jahren nicht mehr. Und der Schriftsteller Stephan Hermlin, den Sie ebenfalls zu überzeugen suchten, ist leider bereits vor 25 Jahren verstorben. Dessen Sohn Andrej Hermlin kommentierte auf Facebook: „Herr Czaja, Sie sollten vielleicht mit der Professionalisierung Berlins bei sich selbst anfangen.“ Immerhin verbreiten Sie auf Wahlplakaten auch die Erkenntnis: „Bildung heißt aus Fehlern lernen.“
Dieter Nuhr, Kabarettist ohne Furcht vor Gegenwind – Sie trauen sich was! Der Berliner Zeitung verrieten Sie dieser Tage: „Drei Viertel der Bevölkerung sind gegen das Gendern. […] Das Gendern geht den Leuten auf den Sack. In den ersten Lebenstagen hat die Prägung durch die Sprache begonnen. Und diese Sprache, ein wesentlicher Teil unserer Persönlichkeit, soll von oben verändert werden, von den wenigen, die es schaffen, die Debatten im Staat zu dominieren.“ Und: „Das Gendern […] ist ein Prinzip, das Gesinnung in der Sprache sichtbar machen soll. Es fordert Unterwerfung unter ein ideologisches Konstrukt. […] Sprachüberwachung ist ein typisches Merkmal totalitären Denkens. Wer ‚1984‘ gelesen hat, weiß das.“
Es mag zwar nicht allzu oft vorkommen, dass wir mit Ihnen nahtlos einer Meinung sind, aber in diesem speziellen Fall klingt es so, als würden Sie dem, was auch wir meinen, recht nahekommen.
Reimar Lacher, Gleim-Haus Halberstadt – Sie ließen uns jetzt eine Aufforderung zukommen, die uns einigermaßen hilflos macht: „Die Dummheit scheint zu immer neuen Höchstformen aufzulaufen. Das Gleim-Haus in Halberstadt fragt im Rückblick auf 2022 wieder nach der ,Dummheit des Jahres‘, um damit Aufschlüsse über unsere Zeit und über den Stand der Aufklärung zu gewinnen.“ Angesichts der Lage des Kontinents neigen wir gelegentlich dazu, die europäische Aufklärung als gescheitert zu betrachten. Und wir können uns einfach nicht entscheiden, uns fallen zu viele Dummheiten des vergangenen Jahres ein. Aber gerne geben wir Ihre Bitte an unsere Leser weiter. Schicken sie ihre Vorschläge mit einer kurzen Erläuterung an: gleimhaus@halberstadt.de. Einsendeschluss ist der 29. Januar 2023.
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