25. Jahrgang | Nummer 26 | 19. Dezember 2022

Weimar glaubt nicht an Puschkin

von Detlef Jena

Alexander Puschkin, dem Goethe einst eine poetisch geweihte Schreibfeder geschickt haben soll, hat den Satz formuliert: „Ja, ich verachte meine Heimat, aber es gefällt mir überhaupt nicht, wenn es ein Fremder tut.“ Interessant: Dieser Tage diskutierte in Weimar eine mutmaßlich hochwohllöbliche Gesprächsrunde über die zunächst noch rhetorisch gestellte Frage, ob das in der Stadt seit 1949 etablierte Denkmal für Alexander Puschkin angesichts der russischen Aggression gegen die Ukraine vom Sockel gestoßen werden sollte. Thüringens Kulturstaatsminister Hoff und Klassik-Stiftung Präsidentin Frau Lorenz sollen dem Treffen fachkompetenten wie illustren und entscheidungsfreudigen Glanz verliehen haben. Sie mussten sich laut dem Pressebericht in der Thüringischen Landeszeitung mit „vielen Fragen und wenigen Gewissheiten“ und einer allgemeinen Ratlosigkeit bescheiden. Und das in dieser Stadt, in welcher der deutsche Weltgeist zu Hause gewesen ist! Shakespeare hätte an dieser Stelle mit seinem Hamlet kommentiert: „Wie ekel, schal und flach“.

Denn wer in Weimar die Hand an Puschkin legen will, muss auch Goethe und Schiller ihres Podestes entheben, genauer – der Schiller zöge den Goethe gnadenlos mit herab. Er hat im Jahre 1804, als die russische Großfürstin Maria Pawlowna dem Erbprinzen angeheiratet wurde, mit der „Huldigung der Künste“ eine tiefe und devote Verbeugung vor dem russischen autokratischen Kaiser Alexander I. gemacht und das auch noch eine „treffliche Akquisition“ genannt. Obwohl die Familie Romanow kurz zuvor den eigenen Vater Kaiser Paul I. ermorden lassen hatte.

Es kommt noch schlimmer: Im Sommer 1605 hatte im Moskauer Kreml ein Zar Dmitri I. den Thron bestiegen. Die Geschichte dieses falschen Zaren, die dazu reizt, tief in die Abgründe politischer Unmoral zu blicken, hat große Dichter beschäftigt. Puschkin, Friedrich Hebbel oder Volker Braun haben sich an dem Stoff versucht und auch unser Friedrich Schiller. Es könnte einträglich sein, schrieb dessen Freund Körner, „wenn Du dem Kaiser Alexander eine Galanterie machtest“. Schiller gelangte zu der konstruktiven Idee, er könnte „in der Person eines jungen Romanow, der eine edle Rolle im Demetrius spielen würde, der Kaiserfamilie viel Schönes […] sagen.“

Schiller bewegte der Gedanke, sich dem „falschen Demetrius“ dramatisch zu nähern und wusste auch, dass der erste Romanow-Zar Michail, der 1613 den Thron bestiegen hatte, ein edler Mensch gewesen ist. Von diesem lauteren Michail bis zum untadeligen Alexander I. des Jahres 1804 war es ja wohl nicht weit… Offensichtlich erschrak er jedoch vor dem eigenen Schnellschuss, schaute doch einmal in ein Buch zur russischen Geschichte, aus dem zumindest hervorging, dass der so edle junge Romanow bereits zeitlich nichts mit dem falschen Dmitri zu tun haben konnte und diktierte sich eiligst in die Feder: „Nein, ich tue es nicht; die Dichtung muss ganz rein bleiben.“

Ganz rein bleiben? Von politischen Verbeugungen vor aktuellen Potentaten? Schiller hat es doch getan. Er bediente sich mit der Geschichte der beiden falschen Zaren Dmitri (1605-10 und 1610) leichtfertig eines Sujets, dessen Hintergründe, Verläufe und Wirkungen am Beginn des 19. Jahrhunderts ebenso unklar waren, wie das allgemeine Wissen über Russland in Westeuropa.

Schiller stellte sich die mutige Aufgabe, dem deutschen Publikum diese seltsame und abenteuerliche russische Welt über den aufgeklärten Verstand zu erschließen. Er wollte erklären, dass so absonderliche Gestalten wie der falsche Demetrius nur bei einem kindlich naiven Volk und in einer unsicheren politischen Lage möglich sind. Als politisch-historische Rechtfertigung führte er für seine Überzeugung die polnische Aggression von 1605 bis 1612 gegen Moskau, die labile und umstrittene Herrschaft des Zaren Boris Godunow von 1598 bis 1605, die Rohheit des russischen Volkes und der Zeitumstände sowie das machtpolitische Hasardspiel des russischen und polnischen Adels an.

Schiller wollte dem deutschen Publikum verständlich machen, wie ein Mensch darauf kommen kann, unter bestimmten Umständen eine den Staat gefährdende abenteuerliche und absurde Betrügerei zu inszenieren und wie dieser Betrug obendrein in der Öffentlichkeit so glaubhaft erscheinen kann, dass er von Teilen des Volkes unterstützt wird. Schiller notierte diesen Gedanken in seinem Arbeitsheft: „Demetrius wird eine tragische Person, wenn er durch fremde Leidenschaften wie durch ein Verhängnis dem Glück und dem Unglück zugeschleudert wird und bei dieser Gelegenheit die mächtigen Kräfte der Menschheit entwickelt, auch die menschliche Verderbnis zuletzt erleidet.“

Aber die kindlich-naiven Russen waren für unseren Schiller ja ein von der Zukunft geprägtes lernfähiges Volk, das dem Despotismus sehr wohl Paroli bieten konnte. Selbst dem Demetrius legte der Dichter die Worte in den Mund: „Die schöne Freiheit…Will ich verpflanzen/Ich will aus Sklaven Menschen machen/Ich will nicht herrschen über Sklaven.“ Es fehlte eigentlich nur noch, dass Demetrius über den despotischen Schatten Iwans des Schrecklichen hinausstieg und sich unter dem veredelnden Einfluss der Segnungen des polnischen Wahlkönigtums zumindest der konstitutionellen Monarchie zuwandte.

Der Dichter Schiller musste jedoch vor dem Historiker kapitulieren, denn die Geschichte war ja nicht so verlaufen. Bei allem Respekt vor der Freiheit des Dichters und seiner Art Persönlichkeiten zu gestalten. Ein Demokrat war Demetrius nun wahrlich nicht. Aber es gab ja Maria Pawlowna, Alexander I. und die Romanows: „Romanow wird durch eine wunderbare himmlische Gewalt getröstet und von der blutigen Unternehmung gegen Demetrius zurückgehalten […] Diese Szene erhebt über das Stück hinaus und beruhigt das Gemüt durch ein erhabenes Ahnen höherer Dinge.“

Schillers Demetrius blieb ein Fragment. In Weimar spielte man stattdessen lieber die selbst von Goethe inszenierten unterhaltsamen Boulevard-Stücke eines August von Kotzebue, da liefen die Leute ins Theater. Die Sache besaß nur einen Haken. Schillers Idealismus, schön und gut. Doch Kotzebue war ein russischer Geheimagent und erforschte die deutsche Literaturszene für den Zaren in Petersburg, um sie nach dessen Wünschen beeinflussen zu können. Den deutschen Patrioten galt er bald als Vaterlandsverräter. Er wurde letztlich 1819 von dem Jenaer Studenten Sand ermordet, nachdem seine Informantenrolle publik geworden war und in ganz Deutschland einen riesigen Skandal hervorgerufen hatte. Ist ihm unser Schiller etwa auch auf den Leim gegangen? Bis zum Gegenbeweis gilt die Unschuldsvermutung.

Im Übrigen: Wenn alle Völker innerhalb Deutschlands und Europas, die in der Geschichte gegeneinander Krieg geführt haben, die kulturellen Zeugnisse der Gegner vernichten würden, wäre die Erde wüst und leer. Auch Weimars Soldaten waren 1812 gegen Russland marschiert, obwohl man am Zarenhof begeistert Schillers „Don Carlos“ las. Weimars Erbprinz Carl Friedrich nannte seinen Schwager Alexander I. einen Lügner und Betrüger. Alexanders Nachfolger Zar Nikolaus I., die Inkarnation reaktionärer Autokratie, entließ Puschkin aus der Verbannung. Da wird Weimar wohl ein bescheidenes Denkmal für den Dichter ertragen. Zu Puschkins Lebzeiten hat Russland zahllose Eroberungskriege geführt und Großfürstin Maria Pawlowna hat damals für Weimars Treue zu den Romanows gebürgt, so intensiv, dass ihr Schwiegerpapa Großherzog Carl August verzweifelt gestöhnt hat, die Russen sollten doch Weimar gleich von Petersburg aus regieren. Und da fragt man sich in Weimar, ob der unschuldige Puschkin aus dem Beethovenpark verschwinden soll.