Während des Kalten Kriegs zwischen den USA und der UdSSR war die Arktis ein nur schwer zugängliches Gebiet. Da die kürzeste Verbindung zwischen den beiden Supermächten aber über den Nordpol führte, war sie als Flugroute für einen Angriff oder Gegenangriff mit Atomwaffen stets Teil der kriegerischen Strategien und wurde somit auch ein Ort der Abschreckung und Androhung von Tod und Vergeltung. Mit dem Klimawandel zieht sich das arktische Eis heute immer weiter zurück. Damit rücken auch einige nukleare Hinterlassenschaften wieder ins Bewusstsein oder entlarven sich als tickende Zeitbomben, die einer wirtschaftlichen Nutzung der Arktis entgegenstehen.
Während andere Staaten ihre Atomwaffen in der Wüste von Nevada oder auf pazifischen Atollen zur Explosion brachten, nutzte die Sowjetunion unter anderem die Inselgruppe Nowaja Semlja in der Arktis als Testgelände. In den 1950er Jahren wurden dafür 536 auf den Inseln lebende Menschen umgesiedelt. Anfänglich wurden Explosionen an der Erdoberfläche, unter Wasser und in der Atmosphäre an verschiedenen Stellen der Inseln durchgeführt. Einige Gebiete auf den Inseln gelten seitdem als verseucht. Am 30.10.1961 wurde über der nördlichen Insel die größte jemals explodierte Atombombe („Zar-Bomba“) gezündet. Die Druckwelle der 50-Megatonnen-Bombe ging rund um die Welt, im 55 Kilometer entfernten Ort Sewernyj wurden alle Gebäude vollständig zerstört und selbst in 900 Kilometer Entfernung gingen Fensterscheiben zu Bruch.
Nach dem Verbot von oberirdischen Atomtests 1963 verlegte die Sowjetunion den Großteil ihrer Tests in Tunnel südlich der Wasserstraße „Matotschkin Schar“. Bei diesen Versuchen kam es dreimal zu unkontrolliertem Austritt von Gas. 1969 wurden dabei am Test beteiligte Personen über längere Zeit einer hohen Strahlenbelastung ausgesetzt. Nach dem Ende der Sowjetunion werden die Testanlagen von Russland weitergenutzt. Es wird vermutet, dass Russland dort seine Waffe „Burewestnik“ entwickelt, einen Marschflugkörper, der von einem Atomreaktor angetrieben wird und mit Atomsprengköpfen bestückt werden kann.
An der Ostküste von Nowaja Semlja hatte die Sowjetunion immer wieder festen Atommüll in der Karasee verklappt. Im Laufe der Jahre hatten sich dort rund 17.000 Container mit strahlenden Abfällen in Wassertiefen zwischen 20 und 300 Metern angesammelt. Zum Teil wurden ganze Lastkähne mit Atommüll versenkt. Unter den Abfällen befanden sich auch mehrere Kernreaktoren aus verschiedenen U-Booten und aus dem Eisbrecher „Lenin“, von denen einige noch mit Brennelementen bestückt waren. 1982 wurde sogar das komplette U-Boot „K-27“ mit versiegeltem Reaktor in einem Fjord von Nowaja Semlja versenkt.
Flüssige radioaktive Abfälle wurden außerdem an verschiedenen Stellen in der Barentssee verklappt. An Land gab es ein Zwischenlager für abgebrannte Brennelemente an der Andrejewa-Bucht, aus dem 1982 radioaktiv verseuchtes Wasser austreten konnte. Und in Gremicha bildete sich ein Schrottplatz für ausrangierte Atom-U-Boote, die dort jahrelang vom Rost zerfressen wurden. Nach dem Ende der Sowjetunion hatte Russland mit Unterstützung aus Norwegen mit der Sanierung des Zwischenlagers an der Andrejewa-Bucht begonnen. Und auch für die Verschrottung der U-Boote aus Gremicha gab es finanzielle Unterstützung aus dem Ausland. Beim Abschleppen im Jahr 2003 ist allerdings das U-Boot „K-159“ vor der Halbinsel Kola gesunken, wobei neun Seeleute ums Leben kamen. Das Wrack liegt jetzt in etwa 200 Metern Tiefe und enthält noch circa 800 Kilogramm hoch-angereichertes Uran.
Für Russland hat die Bergung der U-Boote „K-27“ und „K-159“ sowie von vier verklappten Kernreaktoren, die zusammen für rund 90 Prozent der Strahlenbelastung in der Barents- und Karasee verantwortlich sind, oberste Priorität. Allerdings gibt es dafür noch keine konkreten Pläne, und vor dem Hintergrund des Kriegs in der Ukraine ist auch nicht mit internationaler Unterstützung zu rechnen.
Die USA verfolgten in den 1950er Jahren das Geheimprojekt „Iceworm“. Hinter diesem Namen verbarg sich der Plan, bis zu 600 Atomraketen mitsamt Abschusseinrichtungen im Eisschild von Grönland zu verstecken, von wo aus sie gegebenenfalls die Sowjetunion angreifen könnten. Zur Erprobung der Machbarkeit bauten sie 1959 „Camp Century“, eine als Forschungsstation deklarierte Basis im grönländischen Eis. Die Station bestand aus einer Serie von Tunneln, die in das Eis gefräst und mit Blechdächern abgedeckt waren. Ein transportierbarer Atomreaktor sorgte für die Energieversorgung der Station, in der rund 200 Menschen leben sollten.
Der Atomreaktor war allerdings nicht gut abgeschirmt, und austretende Neutronen gefährdeten die Besatzung und kontaminierten Teile der Station. Da auch die Tunnel im Eis nicht so stabil waren wie erwartet, wurde das ganze Projekt bald wieder beendet. Der Reaktor wurde 1964 abgebaut und in den USA entsorgt. Die Station Camp Century wurde 1967 vollständig verlassen in der Annahme, ihre Reste blieben für die Ewigkeit im Eisschild von Grönland eingeschlossen. Eine Studie aus dem Jahr 2016 geht allerdings davon aus, dass der Klimawandel die Reste der Station nach dem Jahr 2090 wieder freilegen wird. Dann würden auch alle Abfälle von Camp Century wieder an die Oberfläche gelangen inklusive Abwässer, Dieselrückstände, PCB-haltige Baumaterialien und radioaktive Substanzen.
Unter der Bezeichnung „Chrome Dome“ praktizierten die USA in den 1960er Jahren auch eine Abschreckungsmaßnahme mit atomar bestückten Bomber-Flugzeugen. Dafür befand sich ein Dutzend B-52-Bomber permanent in der Luft. Die Flugzeuge wurden in der Luft betankt, und die Piloten arbeiteten im Schichtbetrieb, um jederzeit bereit zu sein, einen atomaren Angriff auf die Sowjetunion auszuführen. Am 21.1.1968 befand sich eine B-52-Maschine mit vier Wasserstoffbomben über der Baffin-Bay zwischen Kanada und Grönland, als in der Kabine ein Feuer ausbrach. Während sich der Großteil der Besatzung mit dem Schleudersitz retten konnte, stürzte die Maschine in der Nähe der Thule Air Base auf den vereisten Ozean.
Beim Aufprall kam es zu keiner Nuklearexplosion. Aber durch die Explosion des konventionellen Sprengstoffs wurden auch radioaktive Substanzen freigesetzt und verteilt. Der Brand des Kerosins ließ außerdem das Eis schmelzen, so dass Teile des Wracks auf den Meeresgrund sanken. Die Aufräumarbeiten wurden durch extreme Kälte und die Dunkelheit der Polarnacht erschwert. Später freigegebene Dokumente zeigten, dass die atomaren Sprengköpfe nicht vollständig geborgen werden konnten. Es fehlte Material im Umfang von einer sekundären Sprengladung. Außerdem wurde offenbar, dass die USA entgegen anderslautenden Beteuerungen die von Dänemark verlangte atomwaffenfreie Zone über Grönland nicht beachteten. Die Operation Chrome Dome wurde nach diesem Unfall eingestellt.
Ein Feuer wurde auch zum Verhängnis des sowjetischen U-Boots „K-278 Komsomolez“. Am 7.4.1989 kam es durch einen Kurzschluss zu einem Brand an Bord, der sich immer weiter ausbreitete. Von der 69-köpfigen Crew konnten sich nur 27 retten, bevor das U-Boot unterging. Jetzt liegt es in 1680 Meter Tiefe in der Norwegischen See etwa 180 Kilometer von der Bäreninsel entfernt. Neben dem Kernreaktor befinden sich auch zwei mit Atomsprengköpfen bestückte Torpedos an Bord. Im Jahr 2019 konnte eine Forschungsexpedition in der Nähe des Wracks erhöhte Radioaktivität messen, von der zurzeit aber noch keine Gesundheitsgefahr ausgehe. Angesichts der Tiefe, in der dieses Wrack liegt, dürfte eine Bergung nochmal deutlich schwieriger werden als bei den U-Booten „K-27“ und „K-159“ oder dem Atommüll in der Karasee.
Auch auf dem Grund des Atlantiks liegen gesunkene Atom-U-Boote, die zum Teil noch mit Atomwaffen beladen sind. Die Gefahr, die auf Dauer davon ausgehen wird, ist nicht abschätzbar. Dennoch werden von verschiedenen Staaten weiterhin Atom-U-Boote gebaut und eingesetzt, auch in der Arktis. Die russische Nordflotte, die in der Arktis stationiert ist, verfügt über rund 30 Atom-U-Boote. Ein Teil davon ist mit Atomwaffen bestückt. Aber auch NATO-Staaten patrouillieren regelmäßig mit U-Booten in der Arktis, um die Zugänge zum Atlantik und Pazifik zu überwachen oder Spionage zu betreiben.
Auch große Kriegsschiffe wie Flugzeugträger oder Kreuzer werden häufig mit Kernreaktoren angetrieben. Von ihnen gehen die gleichen Gefahren aus wie von den U-Booten, auch wenn bisher weniger Unfälle bekannt geworden sind. Russland verfügt außerdem über zivile Schiffe mit nuklearem Antrieb. Neben sechs Atom-Eisbrechern zählt dazu auch das Frachtschiff „Sewmorput“. Und im Hafen der arktischen Stadt Pewek liegt ein schwimmendes Atomkraftwerk „Akademik Lomonossow“.
Die allgemeine Aufrüstung und die russischen Entwicklungspläne für die Arktis deuten darauf hin, dass die Anzahl der Kernreaktoren in den kommenden Jahren weiter zunehmen wird. Das Risiko für eine nukleare Katastrophe in der Arktis wird dadurch noch größer, und es ist zu befürchten, dass auch die Anzahl nuklearer Hinterlassenschaften steigen wird.
IMI-Analyse 2022/61, 14.12.2022. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors.
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