25. Jahrgang | Nummer 25 | 5. Dezember 2022

Eine Wiener Theaterwoche

von Joachim Lange

In Wien sind sie immer vorn dabei, wenn es um die Weihnachtsmärkte geht. Im November ’22 ist es nicht ganz so hell wie sonst, dafür aber manches putzig. Wenn man den Weg zum Akademietheater so einrichtet, dass man an der (angeleuchteten) Karlskirche vorbei und über den dortigen Kunst-Weihnachtsmarkt geht, dann findet man eine Spielwiese, die mit echtem Stroh ausgelegt ist. Für die Stadtkinder ist das tatsächlich ein seltenes Erlebnis; die Mütter werden die Klamotten hernach schon wieder richten. Ist man im Akademietheater zu einer Vorstellung von Frank Castorfs Inszenierung (vom September 2021) des Jelinek-Textes „Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen!“, dann ahnt man, dass die Idee nicht vom Stall in Betlehem, sondern möglicherweise vom Senioren-Kindskopf des Theaters Frank Castorf oder dessen kongenialem Bühnenerfinder Alexandar Denic stammen könnte. Da toben nämlich Dörte Lyssewski, Marie-Luise Stockinger, Marcel Heuperman, Mehmet Ateşçi̇ und Andrea Wenzl zuweilen wie in einem Schweinestall durch Elfriede Jelineks (natürlich standesgemäß mit reichlich Fremdtext aufgemotzte) Textfluten zur Pandemie oder deren Reflexion, Bekämpfung, Verharmlosung oder was auch immer. Samt der notorischen Brüll- und live produzierten Video-Nahaufnahme-Exzesse. Ein echtes Schwein (namens Edmund) weigert sich, als Rampensau mit denen zu konkurrieren, und macht sich in aller Ruhe leise grunzend davon. Es kann froh sein, dass es kein Kaninchen im Berliner Lindenopern-Ring ist, denn da wäre es seinen Job dank wachsamer Tierwohlvorkämpfer schon los. Während dieser Castorfschen Selbstverwirklichung (er macht, was er macht, weil er es kann und man ihn lässt) vor vielleicht zur Hälfte gefüllten Reihen, ist man insgeheim beruhigt, dass es Jossi Wieler sein wird, der die nächste Jelinek-Uraufführung in Berlin (am 16. Dezember im Deutschen Theater) vermutlich als Wortmusik zelebrieren wird.

Zu Beginn der Woche lief im Akademietheater noch die Neuinszenierung eines zweiten, etwas in die Jahre gekommenen Krisen- beziehungsweise Krisenverarbeitungsstück: Tony Kushners „Engel in Amerika“. Es war die gleiche Woche, in der in der Volksoper die letzte Vorstellung von „La Cage aux Folles“ über die Bühne ging. Im Akademietheater gab’s einen eigens angefertigten Vorhang in Regenbogenfarben – so ungefähr jedenfalls. In der Volksoper hingen die entsprechenden Fahnen rechts und links aus den Logen. Die neue Volksopernintendantin Lotte de Beer begrüßte am Ende sogar persönlich eine Wiener Abordnung von speziellen Queens, von der jede(r) einzelne mit einer atemberaubend, perfekt in Szene gesetzten Ich-bin-was-ich-bin-Show in den Logen und in der Pause einen quasi authentischen Bogen von der Bühne ins „richtige“ Leben schlug. Immerhin: Während mit dem Beginn der Fußballweltmeisterschaft in Katar eine scheinheilige Debatte über die Rechte einer Community Fahrt aufnimmt, deren Mitgliedern ein katarischer Offizieller im ZDF gerade einen geistigen Schaden attestiert hatte und sich die deutsche Innenministerin verpflichtet fühlte, am Ort spezielle Sicherheitsgarantien für schwule Fußballfans einzuholen, wird auf zwei Wiener Bühnen das Thema einmal in Moll und einmal in Dur verhandelt. Kushners längst verfilmte, gar veroperte Szenen kriselnder Beziehungen gerieten durch die noch ungebändigte Brutalität der gerade aufkommenden Einschläge von AIDS besonders düster. Das kann aber in der Inszenierung von Daniel Kramer trotz all des Aufgeschminkten und Grellen der Figuren(klischees) nicht darüber hinwegtäuschen, dass es kein wirklich gutes Stück ist. Als bewusste Reaktion auf die Sprachlosigkeit gegenüber einem Virus auf dem Vormarsch, noch dazu im verklemmten Amerika – das ja. Aber mit seinem Arsenal der durch Landläufigkeit verharmlosten Klischees ein Stück, was immer noch bewegt? Eher nicht. Hier sind diverse Serien und Filme längst auf der Überholspur auf und davon.

Jerry Hermans Musical dagegen ist nach wie vor ein Volltreffer, der zündet. Die Story ist auch nicht wirklich tiefschürfend. Sie unterstellt aber, wenn auch im schrillen Show-Milieu, eine Normalität in der Beziehung von Nachtclubbesitzer Georges und seinem Star Zaza (alias Albin), die sogar schon einen gemeinsam großgezogenen Sohn einschließt. Dass der dann verlangt, für seinen potenziellen reaktionären Schwiegervater einen Abend lang eine Heterofamilie vorzugaukeln und dabei Albin die Mama fabelhaft vorspielt, bis sie sich selbst im Eifer des Gefechts als Er enttarnt, aber dennoch alles in einem Happyend mündet, reicht immer noch, um bei richtigem Tempo, gut gesprochenen und toll gesungenen Texten mitzureißen. Und einer Normalität zuzujubeln, bei der der Abstand zwischen Bühne und Wirklichkeit, jedenfalls im deutschsprachigen Europa, keine ganze Epoche mehr ausmacht. Die Volksoper jedenfalls war ausverkauft, was selbst in Wien neuerdings keine Selbstverständlichkeit mehr ist.

Im Akademietheater gelang das (im Unterschied zu den ambitioniert artifiziellen „Troerinnen“ im Burgtheater) mit dem „Weiten Land“ ebenso wie im Theater in der Josefstadt mit dem „Idealen Mann“. Der ist nichts anderes als der „Ideale Gatte“ von Oscar Wilde in einer Bearbeitung von Elfriede Jelinek; die Dame kann auch witzig.

Barbara Freys mit der Ruhrtriennale koproduziertes Schnitzler-Stück bot nicht mehr, vor allem aber auch nicht weniger als Schauspieler-Sprechtheater vom Feinsten. Ganz klassisch, ohne verstaubt zu wirken, mit einer brillanten Crew (darunter Michael Martens, Katharina Lorenz, Dorothee Hartinger, Bibiana Beglau). Ein Vorhang, ein paar Clubsessel und am Ende die Ahnung einer Turbine – wie sie in den Spielstätten der Ruhrtriennale in echt herumstehen. Die Wilde-Adaption in der Josefstadt war optisch (entgegen jedem Klischee über dieses Theater) sogar peppiger, hatte einen Hauch von beschleunigter Robert-Wilson-Ästhetik. Auch hier: genau das richtige Timing für die ihre Rollen treffenden Darsteller! In Österreich (wie auch in Deutschland) kriegt man damit jedenfalls die Häuser auch in der Nachcoronazeit wieder voll.

Etwas gehört noch dazu – wie das Schlagobers auf der Melange: die Oper. Die Staatsoper kann man (wie lange eigentlich noch?) getrost links liegen lassen. Das seit dieser Spielzeit von Stefan Herheim geleitete Theater an der Wien aber nicht. Auch wenn das derzeit ins Museumsquartier ausweichen muss, bot es eine besondere Premiere: Rossinis „Diebische Elster“. Was nur niedlich und nach purer Gaudi klingt. Regisseur Tobias Kratzer schaut aber immer so genau hin, dass der Rossini-Sound auch den Ernst des Stückes trägt. Dass Kratzer einer ist, der sein Handwerk versteht, genau hinsieht, Verborgenes aufdeckt, dabei den szenischen Witz nicht vergisst und stets mit dem Stück und nicht gegen den musikalischen Wind segelt, hat sich bis nach Hamburg herumgesprochen. In Wien jedenfalls pfiff ein vorwitziger, sprichwörtlicher Spatz vom Dach, dass man Kratzer zum neuen Intendanten der Hamburger Staatsoper machen wird. Na dann!