Dieses Blättchen ist das letzte des Jahrgangs 2022, insofern in gewissem Sinne auch eine Art Rückblick. Ich bekenne, ich habe bisher nicht CDU und niemals Angela Merkel gewählt. Eher ironisch hatte ich im Blättchen über sie bereits geschrieben, als sie noch „Kohls Mädchen“ war. Schaue ich auf die Liste meiner Texte über Merkel, die während ihrer Kanzlerschaft erschienen sind, so ist die vergleichsweise lang.
Was die Amerika-Hörigen in den deutschen Medien und der politischen Arena derzeit veranstalten, geht jedoch „auf keine Kuhhaut“, um eine alte deutsche Redewendung zu benutzen. Noch vor drei Jahren hatte ich ein Buch publiziert, das hatte den Titel: „Deutschland auf Machtwegen. Moralin als Ressource für weltpolitische Ambitionen“. Damals agierte in Washington Donald Trump als Präsident. Es hatte geheißen, Barack Obama himself hätte Angela Merkel aufgefordert, 2017 nochmals zu kandidieren, was sie – wie aus ihrem Umfeld kolportiert worden war – eigentlich bereits nicht mehr wollte. Sie wurde wiedergewählt und regierte weiter das Land in der ihr eigenen Art und Weise. Die Globalisten und Transatlantiker von diesseits und jenseits des Atlantiks riefen sie zur „Führerin der freien Welt“ aus, schon weil aus ihrer Sicht ja Trump ein Ausfall war. Das muss jetzt nochmals erinnert werden, da die bezahlten Schreiber (und -rinnen) des „Geheimdienst-Medien-Komplexes“ (wie es in den 1970er Jahren analog zum „Militärisch-Industriellen-Komplex“ hieß) das alles verleugnen.
Mein Befund damals war, dass angesichts des Trump, des Bedeutungsrückgangs des Militärischen in der internationalen Politik sowie der Hegemonie Deutschlands innerhalb der EU, was vor aller Augen mit der Knebelung Griechenlands in der Euro-Falle exekutiert worden war, Deutschland international an Kontur und Gewicht gewonnen hatte. Bereits damals war das Moralin gern benutztes Instrument deutscher Außenpolitik, nicht unbedingt, „die Welt am deutschen Wesen genesen“ zu lassen – wie man das in Deutschland vor 1918 nannte, aber doch, um deutsche Interessen durchzusetzen. Deutschland hatte nach dem grundstürzenden Scheitern seiner Weltmachtambitionen 1945 gewiss niemals einen größeren außenpolitischen Einfluss als während Merkels letzter Kanzlerschaft. Bei ihr und mit ihrer protestantisch-ostdeutschen Art war jedoch klar, das Moralin war Mittel, um interessenpolitische Ziele durchzusetzen. Bei Baerbock und anderen Jung-Akteuren heute muss man jedoch die Befürchtung hegen, die meinen das Ernst mit den deutschen Rezepten für die Weltgenesung – in völliger Unfähigkeit, wirkliche deutsche Interessen zu erkennen, geschweige denn außenpolitisch zu verfolgen. Nach einem Jahr „Ampel“-Koalition, neun Monaten Ukraine-Krieg und der Sprengung der Nordstream-Gasleitungen wurde Deutschland jedenfalls wieder außenpolitisch verzwergt und ist abhängig von den USA, wie einst unter Adenauer.
Die Spielräume, die Merkel geschaffen hatte, wurden zerstört. Und dafür will man jetzt ausgerechnet Merkel verantwortlich machen. Sie habe Putin unterschätzt, ihm naiv geglaubt, nach 2014 die „Annexion der Krim“ hingenommen, die „Abhängigkeit“ Deutschlands vom russischen Gas vergrößert. Viktor Orbán hatte das kürzlich in einem Interview für die Berliner Zeitung als Zeitzeuge eher zutreffender erklärt: Merkel befürchtete bereits damals einen größeren Krieg Russlands in der Ukraine. Insofern war das Minsk-Abkommen zur Ukraine das Mittel, ihn davon abzuhalten. Er war ruhig gestellt, der größere Krieg fand nicht statt und die Ukraine – aus heutiger Sicht betrachtet – hatte acht Jahre Zeit, sich aufzurüsten, ihre Truppen auszubilden und eine Kriegsführungsfähigkeit zu erlangen, die sie definitiv 2014 nicht hatte. Die Ausweitung der beiderseitig vorteilhaften Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Russland – die war niemals eine „einseitige Abhängigkeit“ – war gewissermaßen die positive Sanktionierung dieser Vereinbarung. In diesem Sinne: ruhige Merkelsche Realpolitik. Dass 2014 und danach niemand mit einem ernsthaften Krieg Russlands gegen die Ukraine rechnete, dürfte kein Alleinstellungsmerkmal Merkels sein. Ich denke, alle, die jetzt behaupten, es schon immer gewusst zu haben, lügen.
Einer, der dies derzeit betreibt, ist der Historiker Jan C. Behrends, Professor an der Viadrina-Universität in Frankfurt an der Oder. Er meint, wenn Merkel jetzt sagt, sie habe „gewusst, wie Putin denkt“, habe sie zu wenig in die Bundeswehr investiert. Aber sie wusste doch, dass deutsche Truppen bereits vor Moskau gestanden hatten. Dass sie das nicht wiederholen wollte, ist doch historisch geleitete außenpolitische Weisheit! Das aber soll jetzt nicht mehr gelten.
Beim Sender ntv hat Behrends (03.12.2022) dies kürzlich bekundet. Uns falle jetzt Merkels Politik „auf die Füße“. „Es war ihr ganzer Politikstil, die Unfähigkeit zum Konflikt, nicht nur konkrete Entscheidungen zu treffen.“ Das ist völliger Mumpitz. Merkel hat mit ihrem Politikstil vier Jahre lang geschickt und intrigant den Konflikt mit Trump ausgetragen. Das war nach der Wahl des Biden allerdings vorbei und wurde ihr nicht gedankt, schon deshalb, weil die US-amerikanischen Globalisten derlei Vasallen-Dienste nicht öffentlich honorieren und stets so tun, als seien sie das immer alles selber gewesen.
Behrends meinte dann, Merkel sei dem „deutschen Bedürfnis entgegengekommen, Politik als Verwaltung zu inszenieren und politischen Streit aus der Öffentlichkeit herauszuhalten“. Damit sei sie „am Ende hoffnungslos hinter die Geschichte zurückgefallen“. Was erzählt ein solcher Professor eigentlich seinen Studenten? Dass nicht hinter die Geschichte zurückzufallen, darin besteht, die Ukraine endlich – was bereits Reichskanzler Bethmann Hollweg im ersten Weltkrieg anzielte – in den deutschen Machtbereich einzufügen? Oder „Rache für Stalingrad“ zu nehmen? Das fragte Willi van Ooyen vor einigen Monaten bereits in Bezug auf das Handeln außenpolitischer Akteure dieses Landes. Dass nach 40 Jahren Blockkonfrontation und Systemkonkurrenz von zwei deutschen Staaten, die stets ideologisch und politisch aufgeladen war, die Mehrheit der Deutschen Politik nur noch als Verwaltungshandeln im Sinne der Umsetzung von Sachzwängen wünscht, dürfte auf der Hand liegen.
Zwölf Jahre von 16 Jahren der Merkelschen Kanzlerschaft waren in Koalitionen mit der SPD, mit Müntefering, Steinbrück, Steinmeier, Gabriel, Scholz. Insofern sollen die Anwürfe auch dazu dienen, die SPD mit Scholzens „Zeitenwende“ für die Außenpolitik der vergangenen Jahre nicht in Mitverantwortung zu sehen. Behrends aber ist nicht etwa nur „neutraler“ Professor in Frankfurt, sondern auch Mitglied des Geschichtsforums beim Parteivorstand der SPD. Das findet man allerdings bei Wikipedia. ntv unterschlägt das. So wirkt seine Einlassung neutraler. Die Transatlantiker klittern die Geschichte ohnehin, wo immer sie können und nicht dabei erwischt werden.
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