25. Jahrgang | Nummer 23 | 7. November 2022

Erlesenes – Vom Leben in der DDR

von Wolfgang Brauer

Für Fans der Fastfood-Satire ist die Banane das Symbol der DDR-Mangelwirtschaft („Zonen-Gabi“ lässt grüßen …), für alle anderen ist es der Dederonbeutel. Den trug jede und jeder immer bei sich, es hätte ja „was geben“ können. Unerwartetes, Bananen zum Beispiel. Dederonbeutel war DDR, ebenso wie die allgegenwärtige Kittelschürze – ganz chic aus Dederon natürlich. Zwei Dinge brachten mich jüngst zum Erstaunen: Meine Frau zauberte aus ihrer Handtasche ein Knäuel heraus, das sich als Dederonbeutel (pardon: Perlon oder Nylon?) entpuppte. Mit lustigen Erdbeeren aufgedruckt, sie hatte es in einem Einkaufsspaß-Erlebnispark erstanden. Der Beutel ist praktisch und nimmt weniger Platz weg als eine zusammengefaltete Plastiktüte, die jetzt sowieso tabu ist. Und in einem mir zur Besprechung vorliegenden Büchlein fand ich als Schlusskapitel einen von Klaus Behling verfassten „Abgesang auf den Dederon-Beutel“. Dieser kleine Aufsatz bereitete mir ebenso großes Vergnügen wie das gesamte Büchlein über Alltagserfahrungen mit dem Einkaufen in der DDR.

Das besteht aus einem klugen und mitteilungsfreudigen Einleitungsaufsatz „Lust und Frust“ über die Geschichte des Einzelhandels in der DDR von Wolfgang Kühn und anderthalb Dutzend aufschlussreichen Erlebnisberichten und Branchenanalysen. Kühn räumt die Defizite des Bereiches „Handel und Versorgung“ ein, teilt aber auch ein paar Seitenhiebe aus: „Wenn alle sofort und in großen Mengen die gleichen Waren haben wollen, geht auch der Kapitalismus in die Knie.“ Das konnten wir alle während der jüngsten Klopapier- und Speiseölnöte erfahren. In der DDR allerdings war das Hamstern Alltag. Nicht bei jedem bückte sich die Verkäuferin unter den Ladentisch, und nicht alle hatten genügend dicke Geldbörsen, um im „Deli“ den Wochenendeinkauf zu tätigen und sich anschließend im „Ex“ den neuesten Chic umzuhängen. Von der Möglichkeit, mit West-Geld oder Forum-Schecks die Tristesse ein wenig aufhellen zu können, ganz zu schweigen.

Merkwürdigerweise gehörten die, die auch im realen Sozialismus ein wenig gleicher waren als alle, zu denen, die ihn Ende der 1980er am schnellsten loswerden wollten. Von all dem sowie den mitunter verzweifelten Versuchen, dem Westen mit einem in Design und Funktionalität zumindest gleichwertigen Warenangebot für alle Paroli bieten zu können, berichten die Autoren des trefflich bebilderten Büchleins. Von A wie Apfelsinen bis Z wie Zeulenroda-Möbel gewissermaßen.

Zu jedem der aufgenommenen Berichte könnte man einen Bestätigungs- und einen Widerspruchsaufsatz schreiben. Das ist das Schöne an diesem Buch. Es ist so individuell zusammengestellt, wie es das Leben in der DDR eben war. Anders als die berühmt-berüchtigten Dosensuppen, gegen die jetzt die SED-Diktatur-Stiftung zu Felde zieht. Schade nur, dass der Verlag – wie schon beim aufschlussreichen Vorgängerband „Bei der Fahne“ (2021) – die Herausgeberin verbirgt. Irgendwer muss das Ding doch gemacht haben! Oder hat die Kollegin inzwischen „rübergemacht“?

Mit dem Dederon-Beutel in den Konsum. Eine Einkaufstour durch die DDR, Bild und Heimat, Berlin 2022, 176 Seiten, 14,99 Euro.

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Von der sehr DDR-typischen Ausprägung des Einkaufstourismus berichtet im Dederon-Beutel-Buch Blättchen-Autor Frank-Rainer Schurich. Aus seiner Schreibwerkstatt liegen jetzt zwei Bücher vor, die von einer bösen Schattenseite des Lebens auch in der DDR berichten, von Gewalttaten an Kindern. Medial gepflegt hält sich hartnäckig die Legende, die wurden in der Öffentlichkeit verschwiegen, sowas habe nicht in das Bild der rosarot getünchten Landschaft des realen Sozialismus gepasst. Das ist Quatsch. In allen von Schurich und seinem Mitautor Remo Kroll geschilderten Fällen werden die in Tageszeitungen abgedruckten „Bitten der Volkspolizei auf Hinweise“ (respektive „Mithilfe“) abgedruckt. Die sind im Vergleich zu heutigen „Investigativleistungen“ sprachlich und bildlich karg. So etwas wie die publizistische Vermarktung des Geiseldramas von Gladbeck (August 1988) war in der DDR schlichtweg undenkbar.

In der gemeinsam mit Kroll herausgegebenen „Schriftenreihe Polizei. Historische Kriminalistik“ berichten die Autoren im Band 3 vom Serienmörder Mario S., der 1983 und 1984 mehrere Knaben ermordete und gefasst werden konnte. Das Besondere an der Schriftenreihe ist, dass sowohl die Ermittlungen als auch der anschließende Strafprozess detailliert anhand der vorliegenden Quellen nachvollzogen werden können. Das bedient mitnichten voyeuristische Triebe, bietet aber lehrreiche Einblicke in die Arbeit der Ermittler. Wie kann man als Kriminalist besser lernen, als die Irrwege und Erfolgsspuren der Arbeit der Vorgänger zur Kenntnis zu nehmen? Die Aufklärungsquote bei Mord lag in Deutschland 2021 bei 94,2 Prozent. Das klingt gut, genaueres Hinsehen wirft dennoch Fragen auf.

Ähnlich angelegt, aber für ein breiteres Lesepublikum geschrieben, ist der bei Bild und Heimat erschienene Band „Kindermorde“. Ich räume ein, das Buch ist eine harte Lektüre – gerade ob seiner Sachlichkeit. Die Autoren arbeiten die Fälle nach der noch vorhandenen Aktenlage auf. Das bedeutet, dass man oftmals mit einer extrem gewöhnungsbedürftigen Protokollantensprache konfrontiert wird. Angesichts der Empathie, die sich beim Nachverfolgen von Gewalttaten an Kindern gleichsam automatisch einstellt, ist das mitunter heftig. Aber reale Polizeiarbeit hat nur wenig mit dem zu tun, was allsonntäglich über die Bildschirme flimmert. Schurich und Kroll erzählen fünf Fälle aus der Zeit zwischen 1963 und 1986, von denen zwei trotz erheblichen Ermittlungsaufwands bis zum heutigen Tag unaufgeklärt sind. Darunter ist die zutiefst rätselhafte Mordtat an der nur sieben Jahre alten Marita in Cottbus im Juli 1963. Ausführlich dargestellt wird auch der in die Kriminalgeschichte nicht zuletzt wegen seines gigantischen Ermittlungsaufwands – die Kriminalisten unterzogen 551.198 Materialien einem Schriftvergleich und werteten zusätzlich 60 Tonnen Altpapier aus – eingegangene „Kreuzworträtselmord“ in Halle-Neustadt vom Januar 1981. Frank-Rainer Schurich und Remo Kroll stellen fest, dass Kindesmorde, die nichts mit dem unmittelbaren sozialen Umfeld des Opfers zu tun haben – wie offenbar bei Marita – nur äußerst schwer aufklärbar sind. Desto unverständlicher ist der schlampige Umgang mit gesichertem Spurenmaterial wie im Fall der elfjährigen Nancy aus Burg bei Magdeburg vom Januar 1986, das im Zuge der polizeilichen Umstrukturierungen nach der Wende offenbar vernichtet wurde. Der Mord an Nancy wird wohl für immer unaufgeklärt bleiben. Dieses Buch hinterlässt beim Rezensenten eine tiefe Nachdenklichkeit.

Remo Kroll / Frank-Rainer Schurich: Kindermorde. Fünf authentische Kriminalfälle aus der DDR, Bild und Heimat, Berlin 2022, 240 Seiten, 9,99 Euro.

Remo Kroll / Frank-Rainer Schurich: Serienmorde in der DDR I. Spezielle Motivlagen in der Kriminalpraxis (Schriftenreihe Polizei. Historische Kriminalistik), Verlag Dr. Köster, Berlin 2018, 285 Seiten, 24,95 Euro.

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Niemand kam zu Tode, und das Vorgehen war gesetzlich abgedeckt. Das in Doris Liebermanns Buch „Gegen die Angst, seid nicht stille“ Geschilderte macht dennoch betroffen. Liebermann berichtet über das Vorgehen von DDR-Kulturbürokratie und MfS-Eiferern gegen die Liedermacher Gerulf Pannach, Christian Kunert („Kuno“), Bettina Wegner und den Schriftsteller Jürgen Fuchs. Im Zentrum des Bandes stehen die Vorgänge um ein im Herbst 1976 in Leipzig heimlich aufgenommenes Tonband mit Liedern und Texten von Pannach, Fuchs und Kunert, das in den Westen geschmuggelt und im Dezember 1976 vom Hessischen Rundfunk und vom RIAS ausgestrahlt wurde. Da war das Maß voll, die Drei wanderten in U-Haft. Nach neun Monaten wurden sie ausgebürgert und nach West-Berlin abgeschoben.

Pannach hatte sich zu dieser Zeit bereits mit der Renft-Combo, für die er prägende Texte geschrieben hatte, überworfen. Formal hatte man sich 1973 getrennt. „Dann aber geriet Gerulf Pannach unter den Einfluss von Wolf Biermann, vielleicht war dies das eigentliche Ende von ‚Renft‘. […] Pannach wollte dem ‚Herrn‘ gefallen und so wurde er immer kompromissloser.“ Liebermann zitiert hier den Band-Leader Klaus Jentzsch („Renft“). Dennoch kam es noch zu gemeinsamen Projekten. So für den DEFA-Film „Für die Liebe noch zu mager?“ (1974): „Irgendwann will jedermann raus aus seiner Haut. / Irgendwann denkt er dran, wenn auch nicht laut …“ – „Heut’ kam ich heim, fand mein Zimmer, mein Zimmer zu klein …“ Das drückte das Lebensgefühl einer ganzen Generation aus. Das war subversiv genug, um die Daumenschrauben enger anzuziehen. Renft wurde 1975 verboten – die Repressionsmaßnahmen gegen die Künstler stellt die Autorin ausführlich dar. So auch das auf bösartigste Weise exekutierte Auftrittsverbot gegen Fuchs, Wegner und Pannach in Bad Köstritz im Februar 1975. Eine üble Rolle spielte dabei der später als IM enttarnte künftige SDP-Mitbegründer Manfred „Ibrahim“ Böhme. Unmittelbar über die Klinge sprang übrigens der für den Auftritt zuständige Kulturbund-Kreissekretär für Gera-Land. Die sich so liberal gebärdende Organisation erwies sich bis in ihre Leitungsspitze hinein als willige Vollstreckerin spätstalinistischer Zensurpolitik.

Noch nach fast 50 Jahren füllt sich das Herz mit Zorn und Scham.

Doris Liebermann: „Gegen die Angst, seid nicht stille“. Das geheime Tonband von Pannach, Kunert und Fuchs, mitteldeutscher verlag, Halle (Saale) 2022, 320 Seiten, 25,00 Euro.