25. Jahrgang | Nummer 22 | 24. Oktober 2022

Stalingrad vor 80 Jahren

von Stephan Giering

Im Oktober 1942 tobten die Kämpfe bereits inmitten der Stadt an der Wolga, die damals Stalins Namen trug. Stalingrad – dieser Name wurde für Millionen Sowjetbürger und Deutsche zu einem Schicksalswort. Es war der Beginn des Untergangs des deutschen Hitlerismus und der 6. deutschen Armee auf der einen Seite sowie das Fanal zu einer Wende für Stalins Rote Armee und deren endgültigen Sieg in einem großen Teil Europas im Mai 1945 auf der anderen. Der Name Stalingrad steht für unbeschreibliches Leid, Tod und Trauer für unzählige sowjetische und deutsche Familien, die in dieser erbitterten Schlacht Väter, Söhne, Brüder und Kameraden verloren. Keiner der beiden Diktatoren nahm in diesem Kampf Rücksicht auf die Zivilbevölkerung. Hitler wollte diese Stadt um jeden Preis, und Stalin verbot den noch gebliebenen tausenden Zivilisten die Flucht aus der Stadt. Die Schlacht um Stalingrad endete Anfang Februar 1943 mit der Kapitulation der letzten deutschen Verbände gegenüber der Roten Armee. Stalingrad kostete zirka 400.000 sowjetische sowie 150.000 deutsche Soldaten das Leben. 91.000 deutsche Soldaten gerieten in sowjetische Kriegsgefangenschaft, wovon Jahre später nur 6000 lebend nach Deutschland zurückkamen. Unendliches Leid brachte diese Schlacht auch für viele rumänische und italienische Familien, da deren Armeen auf deutscher Seite gekämpft hatten.

Wofür? Warum? Diese Frage stellten sich nicht nur viele der überlebenden Soldaten auf beiden Seiten, sondern auch die trauernden Angehörigen. Im Schmerz und in der Trauer ist es nur allzu menschlich, Trost in der Beantwortung von tieferen Sinnfragen zu finden. In der Sowjetunion konnten die Menschen sich diese Frage immerhin damit beantworten, dass sie ihre Heimat von den faschistischen Okkupanten befreit hatten. Stalin hatte seit 1941 ganz bewusst an einige zaristische Militärtraditionen angeknüpft und den Kampf eben nicht als „kommunistischen Befreiungskampf“ sondern als „Großen Vaterländischen Krieg“ für die Heimat führen lassen. Eine würdevolle Gedenkstätte als Ort ihrer Trauer bot den sowjetischen Überlebenden die Statue „Mutter Heimat“, die 1967 in Wolgograd errichtet wurde. Im Zuge der Entstalinisierung in der Sowjetunion war Stalingrad bereits 1961 in Wolgograd umbenannt worden.

Und auf deutscher Seite? Eine Antwort auf das „Wofür?“ und „Warum?“ mussten sich viele Deutsche entweder selbst zu geben versuchen oder konnten sie vermutlich niemals finden. Bereits Anfang 1943 zerbrach in der Verzweiflung und der Trauer um ihre gefallenen Angehörigen für etliche Deutsche der verlogene Nazi-Mythos von der Unschlagbarkeit der „besten Armee der Welt“. Es begannen immer mehr deutsche Menschen an der regierungsamtlichen Propaganda zu zweifeln, oder erkannten sie als durch die bittere Realität widerlegt. Hatte der deutsche Diktator 1941 nicht seinen „Russlandfeldzug“ mit der propagandistisch-medial gleichgeschalteten Erzählung eines „Kampfes für Europa und seine Kultur“ gegen den „barbarischen Bolschewismus“ begleiten lassen? „Von Finnland bis zum Schwarzen Meer, vorwärts gen Osten marschieren wir“, hieß es im Lied der deutschen Wehrmacht zum Russlandfeldzug“. Und waren nicht die „europäischen Armeen“, wie es die Nazi-Propaganda verlautbarte, anfangs überaus erfolgreich in ihrem „Abwehrkampf gegen die bolschewistische Gefahr“?

Der Stalinismus war in der Tat ein verbrecherisches Regime. Doch nach dem Sieg über Nazi-Deutschland, den die Rote Armee im Frühjahr 1945 errungen hatte, wurde für viele der trauernden Überlebenden in Deutschland die Sinnlosigkeit des Sterbens ihrer Angehörigen in Stalingrad durch die bittere Realität der Fakten offenbar. Nicht die Befreiung der Sowjetvölker von ihrem Diktator waren der wahre Kriegsgrund der damaligen deutschen Regierung: Hitler wollte die Sowjetunion zerstören und wirtschaftlich ausbeuten. Die Sowjetunion war das rohstoffreichste Land der Welt. Die Ukrainische SSR galt als Kornkammer Europas. Die Ölquellen des Kaukasus waren wirtschaftlich und militärstrategisch ein begehrtes Objekt. Immer mehr Deutsche mussten erkennen, dass ihre Soldaten nicht „für Deutschland“ gefallen waren. Sie wurden von einem verbrecherischen Regime sinnlos in den Tod geschickt.

In Westdeutschland wurden nach dem Krieg als Orte für die Trauer vereinzelt einige kleine Stalingrad-Denkmäler, wie zum Beispiel im westfälischen Münster, errichtet. In der DDR gab es kein einziges Denkmal für gefallene deutsche Soldaten dieser Schlacht. In beiden Teilen Deutschlands war bei führenden Staatsmännern aufgrund des Schreckens des Zweiten Weltkrieges, für den im historischen Vermächtnis auch der Name Stalingrad steht, der ehrliche Wunsch und aufrichtige Wille vorhanden, dass von deutschem Boden nie wieder Krieg, sondern nur noch Frieden ausgehen dürfe.

Beispielhaft sei hier an das konstruktive, zwischenmenschlich gute Verhältnis zwischen dem bayerischen CSU-Chef und Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß und dem DDR-Staatsratsvorsitzenden und SED-Chef Erich Honecker erinnert. Beide Politiker waren sich bei ihren Begegnungen bewusst, dass sie sich antagonistisch gegenüberstehenden politischen und wirtschaftlichen Gesellschaftsordnungen und Militärbündnissen zugehörig und verpflichtet fühlten. Doch gerade, weil sie in jungen Jahren die Kriegszeit selbst erlebt hatten, wussten sie, wie wichtig es ist, einen neuen Weltkrieg auf deutschem Boden zu verhindern.

Ich schließe deshalb mit einem Zitat aus Strauß’ Buch „Die Erinnerungen“, in dem er auch seine Begegnungen mit Honecker schildert. Mögen die heute in Deutschland Lebenden sich darüber – auch eingedenk der Schrecken von Stalingrad – ihr eigenes Urteil bilden:

„Nun seien einige der Meinung, wenn es in Europa in den letzten 2500 Jahren so viele Kriege gegeben hat, warum sollte es denn in den kommenden 2500 Jahren keinen Krieg mehr geben. Die Wahrscheinlichkeit der Statistik spreche dafür, auch wenn derzeit keinerlei Anzeichen für einen solchen Krieg in Europa sichtbar seien. Wenn es dennoch zu diesem Krieg komme, dann sei dies der dritte Weltkrieg, der von uns Deutschen mit totalem Risiko, von den anderen Europäern nur mit halbem und von den Amerikanern lediglich mit dem Verlust ihres Expeditionskorps bezahlt würde. Das Ende sei der Holocaust für Deutschland. Erich Honecker stimmte auch mit diesem zweiten Teil meiner Analyse überein. Weder die DDR noch die Bundesrepublik Deutschland könnten, sagte er, eine Entwicklung wollen, die dazu führe, daß, falls die Großmächte in einem Krieg aufeinanderstießen, die beiden deutschen Staaten dies mit ihrer Vernichtung und der Ausrottung ihrer Bevölkerung bezahlten.“

Die von Strauß benutzte Bedeutung des Wortes „Holocaust“ für ein furchtbares Ereignis ohne einen Bezug zur Shoah mache ich mir durch die Wiedergabe dieses Zitats ausdrücklich nicht zu eigen. Für mich ist Holocaust die Bezeichnung für das singuläre Verbrechen des deutschen staatlichen Völkermords an den Juden Europas.