Für den Monat September wurde für Deutschland auf der Basis des Verbraucherpreisindex des Statistischen Bundesamtes ein voraussichtlicher Preisniveauanstieg gegenüber dem Vorjahresmonat von 10,0 Prozent bekannt gegeben. Im August waren es 7,9 Prozent. Dies bedeutet, dass die Preise weiter ansteigen und nicht abzusehen ist, wann das Maximum dieser Entwicklung und damit eine Trendumkehr zu erwarten sind. In der offiziellen Kommunikation ist man inzwischen dazu übergegangen, den Preisanstieg nicht mehr pauschal als Inflation zu bezeichnen, sondern zwischen dem Anstieg der Energiepreise einerseits und der (eigentlichen) Inflation andererseits zu unterscheiden. Während ersterer aktuell bei 35,6 Prozent liegt, nimmt sich letzterer als Kernrate der Inflation mit 4,8 Prozent noch verhältnismäßig moderat aus. Die Differenzierung aber verharmlost das Ausmaß des Problems, denn bezahlt werden müssen letztlich alle Preise, die für Energie ebenso wie die für andere Produkte und Leistungen. Und selbst ein Anstieg von knapp fünf Prozent markiert bereits den Übergang von einer trabenden zu einer galoppierenden Inflation.
Aufschlussreicher als die Beschreibung inflationärer Phänomene ist die Analyse ihrer Ursachen: Hier gilt es zunächst festzuhalten, dass eine Inflation keine Naturkatastrophe darstellt und auch kein monetärer Betriebsunfall ist. Überdies ist die gegenwärtige Teuerung nicht das vorhersehbar gewesene Resultat einer verfehlten Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB), wie manche Ökonomen behaupten, etwa indem diese, um die Deflationstendenz in den Volkswirtschaften der Euro-Zone zu bekämpfen, seit 2015 eine ultralockere Geldpolitik betrieb. Sie ist ebenso wenig, wie offizielle Medien es darstellen, ursächlich auf den Krieg in der Ukraine zurückzuführen. Gleichwohl gibt es hier einen Zusammenhang dahingehend, dass der Krieg die Inflation anheizt, verstetigt und verstärkt. Er ist aber trotzdem nicht deren primäre Ursache. Dies geht schon daraus hervor, dass die Teuerung in Deutschland und in EU-Europa bereits acht Monate vor Kriegsbeginn einsetzte. Ihre primären Ursachen müssen also woanders gesucht werden.
Möglicherweise kommt man der Wahrheit näher, wenn man die ökonomischen Effekte des Geldwertverlustes betrachtet und die Frage beantwortet, wer jeweils die Gewinner und die Verlierer der Inflation sind. Über die Verlierer ist schnell Klarheit zu erlangen: Es sind all jene, die letztlich die gestiegenen Preise bezahlen müssen, ohne eine Chance zu haben, diese als Kosten an andere weiterzugeben oder sie über steigende Einnahmen auszugleichen. Also alle Endverbraucher. Da Inflation eine Geldwertminderung darstellt, einen permanenten Kaufkraftverlust, zählen zudem alle Sparer und Gläubiger nominaler Geldforderungen dazu. Gewinner sind dagegen jene, die die Marktmacht haben, Preise zu setzen, mit knappen Gütern zu spekulieren und folglich eine Inflation herbeizuführen. Ferner alle Kreditnehmer und Schuldner. Also die meisten Unternehmen und vor allem der Staat, da sich die Schulden infolge des Geldwertverfalls real verringern und der Schuldendienst dadurch erleichtert wird. Zugleich erhöhen sich mit durch Preiserhöhungen steigenden Umsätzen und mit der Steuerprogression die Einnahmen von Unternehmen und Staat nominell.
Zieht man das Ganze eine Ebene höher und argumentiert volkswirtschaftlich, so dokumentiert sich in der Inflation das totale Versagen des Systems der neoliberalen Marktwirtschaft. Nicht nur, dass sich das finanzkapitalistische System nach dem Fiasko der Finanzkrise von 2008 als unfähig erwies, die Wirtschaft auf einen nachhaltigen Wachstumspfad zu bringen, so ist es heute offenbar nicht einmal mehr in der Lage, für Güter von existenzieller Bedeutung wie Energie und Lebensmittel eine marktliche Preisbildung zu garantieren. Stattdessen bestimmen global agierende Spekulanten die Preise und sind strategische Güter wie Erdöl, Erdgas und Getreide zu reinen Spekulationsobjekten geworden, über deren Produktion, Export und Preisgestaltung internationale Kartelle, bestimmte Großunternehmen sowie Mono- und Oligopolisten kraft ihrer Marktmacht entscheiden. Dadurch sind ganze Volkswirtschaften erpressbar geworden.
Das neoliberale System hatte sich schon 2008 als ineffizient erwiesen, indem es erst die Finanzmärkte der Spekulation aussetzte und dann, als die Märkte zu kollabieren drohten, das helfende Eingreifen von Zentralbanken und Staaten einforderte. Nur so ist es noch einmal gelungen, die Banken zu retten und die Wirtschaft zu stabilisieren. Jetzt aber scheint sich eine ähnliche Entwicklung auf den Energie-, Rohstoff- und Lebensmittelmärkten anzubahnen, indem Spekulanten über Liefermengen und Preise bestimmen, während der Bedarf der Wirtschaft und die Versorgung der Bevölkerung von untergeordneter Bedeutung sind. Die auf diese Weise, also spekulativ und auf Kosten der Bevölkerung und der Staaten realisierten Gewinne und Übergewinne sind gigantisch, womit sich die Inflation als ein wirksames Umverteilungsinstrument des gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben erweist.
Ein Nebeneffekt dabei ist jedoch die wirtschaftliche Rezession. Und zwar als Folge des inflationär bedingten Nachfragerückgangs und als Nebenwirkung der Geldpolitik zur Inflationsbekämpfung. Mit einem wirtschaftlichen Abschwung ist wahrscheinlich schon in diesem Winter zu rechnen, ganz sicher aber im kommenden Jahr. Indem die EZB vergeblich versucht, die Inflation in der Euro-Zone mit wiederholten Anhebungen der Leitzinsen zu bekämpfen, verteuert sie das Investitionsgeschehen und verstärkt dadurch den wirtschaftlichen Abschwung, die Rezession.
Bemerkenswert ist hier aber noch ein anderer Zusammenhang: Mit ihrer die Deflationstendenz in der Euro-Zone bekämpfenden ultralockeren Geldpolitik, dem QE (Quantitative Easing), hat die EZB die durch die Folgekosten der Finanzkrise und die Maßnahmen zur Corona-Prävention klammen Staatshaushalte jahrelang mit „billigem Geld“ versorgt, faktisch finanziert. Die Schuldenberge, auf denen die Staaten seitdem sitzen, gilt es nun wieder abzubauen. Das probateste Mittel dafür ist die Inflation. Insofern darf es niemanden verwundern, wenn Vertreter der Regierungen angesichts steigender Inflationsraten zwar Verständnis für die Nöte der Bürgerinnen und Bürger zeigen, letztlich aber wenig bis nichts unternehmen, um die Ursachen dafür zu beseitigen. Am wenigsten ist dies vom Finanzminister zu erwarten. Dabei wäre es finanztechnisch und juristisch einfach, Preisobergrenzen einzuführen, um dadurch den Preisanstieg zu deckeln, überhöhte Importpreise nicht zu akzeptieren und Inflationsgewinne abzuschöpfen. Es muss nur politisch gewollt sein. Aber gerade daran ist zu zweifeln. Es wird nur dann dazu kommen, wenn dies von der Bevölkerung lautstark und unüberhörbar durch demokratische Willensbekundungen erzwungen wird.
Schlagwörter: Europäische Zentralbank, Finanzkrise, Geldpolitik, Inflation, Ulrich Busch