25. Jahrgang | Nummer 20 | 26. September 2022

Trübe Aussichten: heißer Herbst und kalter Winter

von Jürgen Leibiger

Völlig zu Recht trauen die Konjunkturinstitute der Europäischen Zentralbank nicht zu, die Inflation entscheidend einzudämmen. Obwohl die EZB die Zinsen auf 1,25 Prozent erhöhte, weitere Steigerungen ankündigte und ihre Geldpolitik strafft, prognostizierte das Münchner ifo-Institut eine Erhöhung der Inflationsrate bis auf einen zweistelligen Wert. Natürlich soll die EZB-Zinspolitik auch eine Antwort auf die Ankündigung des US-amerikanischen Federal-Reserve-Präsidenten Jerome Powell sein, der auf der jüngsten Tagung der Zentralbanker in Jackson Hole ankündigte, die Zinsen – sie liegen in den USA aktuell bei 1,75 Prozent – weiter zu erhöhen. Die negativen Auswirkungen auf Wachstum und Beschäftigung seien, so Powell, „leider die Kosten dafür, dass man die Inflation bekämpft.“ Soeben hat die Fed das gemacht und ein Erhöhung der Zinsen auf bis zu 3,25 Prozent angekündigt. Das hat auch für Europa Konsequenzen. Lägen die europäischen Zinsen zu deutlich unter dem amerikanischen Niveau, würden sich weitere Anleger vom Euro ab- und dem Dollar zuwenden, was den Eurokurs, der schon jetzt nahe seinem historischen Tiefstand liegt, weiter sinken ließe. Ein schwacher Euro wirkt zwar exportfördernd, die Importe würden sich aber verteuern und die Inflation angeheizt. Tatsächlich hatte der Zinsschritt der EZB den Eurokurs zunächst leicht positiv beeinflusst. Nach Powells neuestem Schritt ist er erneut abgesackt. Wie es weitergehen wird, hängt von den nächsten Schritten der Zentralbanken ab.

Was konjunkturpolitisch für die USA zutrifft, gilt auch für Europa: Zinssteigerungen sind Gift für die Konjunktur und die EZB betonte ausdrücklich, um die Inflationserwartungen einzudämmen, müsse die Nachfrage gebremst werden. Was Sparer freut, ärgert Kreditnehmer. Investitionen, Wachstum und Beschäftigung werden nicht nur von zunehmender Unsicherheit, sondern darüber hinaus von wachsenden Zinsen beeinträchtigt. Für die Staatsverschuldung bedeuten höhere Zinsen eine weitere Belastung der Haushalte. Bund, Länder und Gemeinden hatten zuletzt insgesamt 21 Milliarden Zinsen zu bezahlen, das waren rund 1,7 Prozent des Haushaltsvolumens. Der Betrag könnte sich jetzt glatt verdoppeln. Für Staaten mit höherer Verschuldung droht geradezu eine Strangulation. Italien hat einen fast genauso hohen Schuldenberg wie Deutschland, muss aber an den Anleihemärkten eine dreifach höhere Rendite garantieren. Sein Staatsbudget ist aber vierzig Prozent niedriger im Vergleich zu Deutschland. Ähnlich geht es Portugal und Spanien; noch krasser liegen die Verhältnisse in Griechenland. Schon wird die Gefahr einer neuen Euro-Krise beschworen und ob die dafür neu entwickelten Instrumente der EZB greifen, steht abzuwarten.

Natürlich ist die hohe Inflation ein enormes Konjunkturrisiko. Die Realeinkommen sinken und damit sinkt auch die gesamtwirtschaftliche Nachfrage. Die privaten Konsumausgaben, zurzeit noch eine Stütze der Konjunktur, werden demnächst und auch noch das nächste Jahr zurückgehen. Und da Finanzminister Christian Lindner hinsichtlich der Staatsverschuldung die Ausnahmeregelung nach Artikel 109 (3) und 115 (2) Grundgesetz auslaufen lassen und sich ab 2023 wieder in Richtung einer schwarzen Null bewegen will, sind aus dieser Richtung trotz der Entlastungspakete kaum zusätzliche Konjunkturimpulse zu erwarten. Auch die Außenwirtschaft fällt als Konjunkturmotor aus, der Leistungsbilanzüberschuss ist zuletzt kontinuierlich gesunken.

Obwohl es also nicht falsch ist, die Inflation zu bekämpfen, sind die dafür gewählten Maßnahmen konjunkturpolitisch fragwürdig, denn die Inflationsursachen liegen nicht in der Geldpolitik, sondern in Russlands Aggression und dessen Exportpolitik bei Energierohstoffen sowie – ob politisch richtig oder falsch ist hier nicht die Frage – in der Sanktionspolitik des Westens. Die Inflation ist weitgehend importiert und wird durch die Monopolstellung der Rohstoff- und Energiekonzerne und spekulative Momente weiter verstärkt. Den Realeinkommensverlusten stehen Übergewinne dieser Konzerne gegenüber. An dieser Flanke des Wirtschaftskrieges und der Konjunkturpolitik ist die Regierung nicht ernsthaft zu einem Kurswechsel bereit. Eine Vermögensabgabe oder die schärfere Besteuerung dieser Gewinne sowie der Spitzeneinkommen, die für eine staatliche Nachfragesteigerung eingesetzt werden könnten, stehen wegen des FDP-Vetos nicht zur Debatte. Zwar wurde die Absicht kundgetan, die sogenannten Zufallsgewinne der Stromerzeuger zugunsten der Endverbraucher zu begrenzen, aber noch sind die Ankündigungen sehr vage. Solche Gewinne entstehen dadurch, dass bei der Zuschaltung der teuersten Stromerzeuger infolge einer Nachfragesteigerung oder eines Angebotsabfalls die Strompreise und damit die Gewinne der kostengünstigeren Erzeuger unverhofft – deshalb „zufällige“ oder windfall profits – steigen. Würde ein Teil dieser Gewinne den kostenintensiveren Anbietern als Ausgleich gezahlt, könnte eine Strompreiserhöhung vermieten werden. Details der neuen Marktregeln werden noch ausgehandelt, aber schon jetzt ist klar, dass wesentliche Inflationsgewinnler damit nicht erfasst werden.

Zugegeben, es ist ein ziemlich verwickelter Knoten mit vielen Fäden, vor dem die Zentralbanken und die Regierungen stehen. An welchem Ende auch gezogen wird, man kann nicht sicher sein: Löst sich der Knoten oder zieht er sich fester zu? Für die Bezieher niedriger Einkommen und die Armen dieser Gesellschaft ist die Sache trotzdem ziemlich klar: Ihre Position verschlechtert sich. Viele konnten nie sparen oder können es angesichts steigender Preise nicht mehr. Höhere Sparzinsen bringen ihnen nicht einen müden Euro. Steuersenkungen nützen ihnen auch nichts; viele zahlen keine Steuern oder das Einsparvolumen ist so niedrig, dass es nicht ins Gewicht fällt. Droht Arbeitslosigkeit, sinken die Einkommen weiter. Höhere Sprit-, Energie- und Lebensmittelpreise müssen sie aber genauso hinnehmen wie die Gutverdienenden. Die Einmalzahlungen und Zuschüsse aus den Entlastungspaketen sind hilfreich, gleichen aber die infolge der Inflation kontinuierlich wirkenden Realeinkommensverluste nicht aus. Außerdem ist schon jetzt klar, dass die von der Regierung angekündigten Zahlungen erst in einigen Monaten erfolgen werden. Nicht nur die Zeit bis dahin wird für diese Schichten eine Katastrophe sein, auch danach wird es, bleibt es bei Inflation und Rezession, kein Zuckerschlecken werden. Sie haben ja schon in „normalen“ Zeiten nichts zu lachen. Diesen Schichten steht wohl ein kalter Winter bevor, es sei denn, Proteste und ein „heißer Herbst“ zwingen die Regierung zu einer Nachbesserung der Entlastungspakete. Für die oberen Einkommens- und Vermögensschichten ist das kein Thema. Die Krise ist nicht nur eine Maschine zur Vernichtung von Reichtum schlechthin, sie ist auch eine Umverteilungsmaschine und hat erhebliche soziale – ganz zu schweigen von klimapolitischen – Unwuchten. Zwar werden auch die Oberschichten inflationäre und konjunkturelle Verluste erleiden, aber sie stecken das angesichts ihrer finanziellen Polster wesentlich leichter weg. Außerdem sind bei ihnen die absoluten Beträge der finanziellen Entlastung durch Lindners Steuerpläne hinsichtlich der kalten Progression weit höher als beim Durchschnitt; an Über- oder Zufallsgewinnen und dem 30-prozentigen Wachstum der Unternehmens- und Vermögenseinkommen in den letzten beiden Jahren haben sie ja auch eher als die Normalbürger (Arbeitnehmerentgelte stiegen in dieser Zeit um 11 Prozent) partizipiert. Gejammert wird trotzdem, es gehört bekanntlich zum Geschäft.

Die Verschlechterung der Konjunkturaussichten betrifft nicht nur das bisher stark von russischen Öl- und Gaslieferungen abhängige Deutschland. Die gesamte Weltwirtschaft ist, nachdem schon die Pandemie zu einem Rückschlag führte, durch die mit dem Krieg verbundenen Maßnahmen in Mitleidenschaft gezogen. Überwogen zu Beginn des Jahres die optimistischen Wirtschaftsaussichten, so hat sich der Wind inzwischen gedreht. Für 2022 und 2023 wurden die Prognosen zum Teil deutlich auf etwa die Hälfte der im Vorjahr erreichten Dynamik des Wachstums herunter- und die Inflationserwartungen nach oben geschraubt. Für den Euroraum erwarten die jüngsten Konjunkturberichte sogar eine Schrumpfung. Die USA haben schon in diesem Jahr zwei Quartale lang ein rückläufiges Bruttoinlandsprodukt. Obwohl für den Rest des Jahres leichte Besserungen erwartet werden, wird es im nächsten Jahr eher schlechter als besser. China, seit vielen Jahren die Wachstumslokomotive der Welt, leidet weiter an den Lockdowns infolge Covid-19 und wächst dieses Jahr statt zwischen 7 und 9 nur noch um die 3 Prozent. Eine Rückkehr zu den vormaligen Wachstumsraten kann ausgeschlossen werden. Die für die ärmeren Länder angekündigte deutliche Verlangsamung des Wachstums ist für die unteren Schichten dort mit drastischen Verschlechterungen ihrer Lage verbunden. Die Institutionen des UN-World-Food-Programme warnen vor exorbitanten Steigerungen der sowieso schon hohen Zahl von Hungertoten.

Der „reguläre“ weltwirtschaftliche Konjunkturzyklus ist durch die beiden Schocks von Pandemie und Krieg erheblich durcheinandergekommen. Aber wenn die Pandemie als Naturkatastrophe betrachtet werden kann, sind der Krieg und die wirtschaftspolitischen Reaktionen darauf zwar auch externe Schocks für die Ökonomie, haben aber politische Ursachen. Die Antwort darauf kann deshalb nicht allein konjunkturstabilisierender Natur sein. Die gegenwärtig vorherrschenden militärischen Reaktionen kurbeln zwar die Rüstungskonjunktur an, haben aber für die meisten anderen Wirtschaftszweige, die Mehrheit der Bevölkerung und die Weltwirtschaft insgesamt negative Folgen. Trübe Aussichten.