25. Jahrgang | Nummer 18 | 29. August 2022

Theaterberlin

von Reinhard Wengierek

Diesmal: „Cabaret“ – Tipi am Kanzleramt / „Auslöschung. Ein Zerfall” – Deutsches Theater.

***

Tipi: Willkommen, Bienvenue, Welcome 

Anno 2004, da war die kleine Bar jeder Vernunft zwar längst eine unumstößliche Größe im Hauptstadt-Entertainment, doch 450.000 Euro für eine „Cabaret“-Produktion, das war selbst für die ausgebuffte Direktion der helle Wahnsinn. Und so wurde sicherheitshalber eine 500-Euro-Aktie aufgelegt und jedem der mäzenatischen Käufer bis 2007 eine jährliche Dividende von einer Flasche Champagner garantiert. Tja, so verrückt war das damals. Prompt wurden von Promis, Freunden, Liebhabern solidarisch die Scheckbücher gezückt. Und niemand hat es je bereut. Die grandios besetzte „Cabaret“-Inszenierung des Madonna-Choreographen Vincent Paterson (musikalische Leitung Adam Benzwi) war eine Sensation. Das Publikum stand Kopf, Rezensenten entkorkten gleich mehrere Schampus-Pullen auf einmal, feierten ein Ereignis Berliner Theatergeschichte, scheuten keine Vergleiche mit der Broadway-Uraufführung des Welt-Hits. Und wagten gar den Hinweis, die kammerspielartige Bühnenadaption dieser tollen Geschichte, die verruchtes Nachtklub-Milieu aufregend in eins bringt mit dem traurig-tragischen Kleine-Leute-Milieu vom Nollendorfplatz am Vorabend der Nazi-Dämmerung, dass diese kompakte Berlin-Fassung des Berlin-Klassikers auf ihre Art der Hollywood-Verfilmung von Jon Fosse nicht nachstehe.

Da ist es nur sinnvoll, diesen Glücksfall aus Musical, Show, Polit-Theater und Menschendrama, Patersons interpretatorisches Meisterstück, im Repertoire zu halten; nunmehr – seit 15 Jahren alljährlich im Sommer ‑ im etwas erweiterten Rahmen: Nämlich in Europas größter stationärer Zeltbühne (die überhaupt nicht riesig, sondern erstaunlicherweise sehr intim wirkt); im sogenannten Tipi am Kanzleramt unter alten Bäumen am Rande des Tiergartens. Einer selbstredend erstklassigen, allein auf Sponsoring und Abendkasse angewiesenen Adresse für aufregende Unterhaltung mit Comedy, Musical, Show nebst exzellentem Gastronomiebetrieb. Bei Schönwetter auch draußen mit Blick ins Grüne auf den illustren Sitz der Regierung.

Nebenbei bemerkt: Warum bloß nehmen viele der doch bestens ausgestatteten Hauptstadt-Theater ruhmreiche, meist kostenaufwändige Produktionen oft übereilt aus ihrem Programm?

Also alle Sommer wieder John Kander und Fred Ebb und „Cabaret“. Und so auch jetzt (noch bis 25. September). Freilich in jeweils wechselnden Besetzungen. Wobei besticht, dass die künstlerische (Gesang, Schauspiel, Ballett) sowie technische Qualität (die frappierend fliegenden Szenenwechsel im ingeniös einfachen Bühnenbild) durchaus der Uraufführung entspricht – wir waren schließlich dabei an jenem denkwürdigen 23. Oktober 2004.

Für unsereins eine besondere Erregung: Die Besetzung der letztlich komisch-tragischen Figur des Fräulein Schneider mit Barbara Schnitzler, einer langgedienten Kernkraft des Deutschen Theaters (48 Jahre Festengagement). Der Vorschlag dazu – „Nehmt die Schnitzler!“ – kam vom parallel besetzten Berliner Altstar Regina Lemnitz. Sehr kollegial, sehr kenntnisreich.

Die Schnitzler geht ihre Rolle auf die ihr eigene Art cooler an, aggressiver, nüchtern Berlinischer, das Komische eher wegdrückend. Ein höchstens ein klein bisschen jüngferlich scheues Fräulein, das Verbitterung kühl, ja rabiat wegsteckt und ansonsten sich tapfer, auch peinlich kompromissbereit behauptet im Überlebenskampf mit ihrer höchst bescheidenen Pension, die doch ungewollt noch zum Puff wurde fürs Damenpersonal des Kit-Kat-Klubs. Dennoch erliegt sie anrührend der zärtlichen Werbung des jüdischen Obsthändlers Schultz. Verzichtet aber „vernünftig“ aufs späte Glück angesichts der rotzig auftrumpfenden, Schaufenster einschlagenden Hakenkreuzler. Ein armes Menschenkind. Eine leise Tragödie inmitten des beginnenden Nazi-Krachs. Eine im starken Ensemble hervorstechende Charakterskizze.

Übrigens, in diesem Zusammenhang denkt Theaterberlin geradezu unwillkürlich an die unvergessliche, erschütternde Rolle der Schnitzler als sowohl eisige als auch in feinen Spuren warmherzig empathische, als seelisch verletzte und zugleich herrisch verletzende Margot Honecker in Jan Josef Liefers‘ ZDF-Film „Honecker und der Pastor“. Ein faszinierend schraffiertes Charakterbild. Die Schnitzler groß im Kino und groß in „Cabaret“ – gekonnt unaufdringlich eingefügt ins jeweils große Ensemble. Wir empfehlen die Mediathek. Wir rufen: Auf ins Tipi!

***

DT: Braune Soße über Wolfsegg 

Die für Franz-Josef Murau denkbar größte Katastrophe ist eingetreten: Ein Telegramm befiehlt: Zurück ins Haus nach Wolfsegg, wo er geboren wurde, wo die „dummen Landpomeranzen“, die beiden Schwestern, leben und wo jetzt die Eltern und der Bruder gestorben sind – ihr Begräbnis steht an.

Sowie die aufsteigende Erinnerung an eine herrisch reglementierte Kindheit, an das unausrottbare Nazitum der Eltern, an diese ganze von Lieblosigkeit, Hass, Borniertheit und spießiger Selbstgerechtigkeit zerfressene Sippe, vor der Franz-Josef mit seinen gesammelten Traumata einst angeekelt floh aus der finsteren oberösterreichischen Provinz ins helle Italien, nach Rom. Und nun muss er, aufgeklärter akademischer Kulturbürger, noch einmal zurück in den „Wald der Kindheit hinein“, in die Schrecklichkeiten familiärer Gewaltherrschaft, ins dreiste Fortblühen „katholisch-nationalsozialistischer Mentalität“. – Aber: Es soll zugleich vorwärts gehen, endlich in die endgültige, die befreiende seelische Auslöschung des Wolfsegg-Horrors.

Davon handelt Thomas Bernhards letzter Roman „Auslöschung. Ein Zerfall“ von 1986. Ein sprachgewaltig bitterböser, zugleich hochnotkomischer innerer Monolog. Ein Monument des Menschheitsekels auf immerhin 600 Druckseiten. Eine brutal sarkastische Generalabrechnung mit scheinbar heimatlichem Idyll und überhaupt: mit der deutsch-österreichischen Nachkriegsgesellschaft.

Regisseurin Karin Henkel und Dramaturgin Rita Thiele haben den ungeheuer monströsen psychologisch-politischen Erguss verdünnt und geschwächt durch Einbau diverser Texte aus anderen Bernhard-Stücken. Um einen Mix aus groteskem Kabarett und giftigem Konversationsstückchen zu haben für hübsch ätzende Spielszenen der von „brauner Soße“ durchnässten Typen.

Und so tummeln sich denn im längst abgestorbenen Wald (Bühne Thilo Reuther) die Fratzen der untoten Eltern (in Hass verklebt Almut Zilcher, Manfred Zapatka), die verlogen bösartigen Schwestern (Anja Schneider, Daniel Zillmann). Franz-Josef, dem armen Wüterich (Bernd Moss), ist noch ein Kindheitsdoppel beigegeben mit Linn Reusse und Daniel Zillmann. – So brettelt sich die edle Spielschar durchs elend Vergangene und entsetzlich Gegenwärtige – zum Heulen, zum Lachen. Und doch will uns dieses Lachen nie im Halse stecken bleiben; obgleich die „braune Soße“ doch unentwegt weiter köchelt im Heute auch jenseits von Wolfsegg.

Dieses plakativ grell ausgestellte Panoptikum im unheilvollen, verdorrten Wald, aus dessen verseuchtem Boden – surreales Finale ‑ im gläsernen Fahrstuhl Nazigrößen auftauchen wie aus der Hölle und gespenstisch walzern mit den unheimlich wiederbelebten Murau-Eltern, das alles ist gut gemeint und gemacht, lässt uns aber kühl beiseite. Das packt nicht Bernhards Furor, mit dem er – verzweifeltes Warnbild – das Schlimmste als naturgemäß herrschendes Daseinsprinzip behauptet.