Wer sich schon einmal die Frage gestellt hat, warum die Industrielle Revolution der Neuzeit, die zum entscheidenden Motor der bis heute nachwirkenden globalen Dominanz des Westens wurde, ausgerechnet im nordwestlichen und mittleren Europa – und nicht etwa in Asien oder in der islamischen Welt – ihren Anfang nahm und im weitgehend von entsprechenden Europäern besiedelten Nordamerika zu ihrer stärksten Ausprägung gelangte, der wird bei dem Anthropologen Joseph Henrich Antworten finden, die er so kaum erwartet und auch noch nicht anderswo gelesen haben dürfte.
Henrich zufolge war die entscheidende Wegbereiterin für Aufstieg und Erfolg des Abendlandes der Siegeszug des Christentums – und zwar in Gestalt seiner beiden Hauptkirchen, der katholischen wie der protestantischen.
Der katholischen Kirche mit ihrem Gebot der Monogamie und dem Verbot der Vetternheirat „gelang eher zufällig das geniale Kunststück, verwandtschaftsbasierte Institutionen zu zerschlagen“, so Henrich, während diese in allen anderen Kulturkreisen der Welt vorherrschend blieben und ähnliche Entwicklungen wie in Europa blockierten. Damit schuf der Katholizismus, folgt man dem Autor, die Voraussetzung für die Entstehung eines stark individualisierten Menschentypus, den Henrich wohl nicht zuletzt deswegen als weird (seltsam) bezeichnet, weil er sich durch eine Attributierung als überlegen von vorn herein dem Verdacht des Sozialdarwinismus aussetzen würde. Andererseits ist weird bei Henrich jedoch zugleich ein Akronym für western, educated (gebildet), industrialized, rich, democratic – Eigenschaften, die den abendländischen Menschentyp kennzeichneten, der überdies über ein europäisches kollektives Gehirn verfüge, das laut Henrich „genialer“ und „erfindungsreicher“ als jenes anderer Menschentypen sei. Darüber hinaus spricht Henrich den Westlern im Vergleich zum Rest der Welt einen höheren Grad an analytischem Denken, Vertrauenswürdigkeit, Fleiß, Ehrlichkeit, Selbstbeherrschung, Geduld und Empathie gegenüber Fremden zu. Was – summa summarum – als überlegen zusammenzufassen wiederum nicht an den Haaren herbeigezogen sein dürfte.
Das Super-Gehirn seinerseits verdanke der Abendländer Martin Luther und dem Protestantismus.
Der Schlüssel dafür liege laut Henrich allerdings in der physiologischen Selbstorganisierungs- und -strukturierungsfähigkeit des menschlichen Gehirns schlechthin. Wie der Autor dies erläutert, gehört zu den genialen Stellen seines Buches oder vielleicht auch nur zu den für Laien wie den Rezensenten verblüffendsten: „Ihr Gehirn wurde verändert, neurologisch neu verkabelt, als es eine in Ihrer Gesellschaft hochgeschätzte Fähigkeit erworben hat. Bis vor Kurzem war diese Fähigkeit noch kaum oder gar nicht von Nutzen, und die meisten Menschen in den meisten Gesellschaften haben sie niemals erworben. Mit der Entwicklung dieser Fähigkeit haben Sie
1. einen Bereich der linken ventralen okzipito-temporalen Region Ihres Gehirns spezialisiert, der zwischen Ihren Sprach-, Objekt- und Gesichtsverarbeitungszentren liegt;
2. Ihr Corpus callosum, die Informationsautobahn, die die linke und rechte Hemisphäre Ihres Gehirns verbindet, verdickt;
3. den Teil Ihres präfrontalen Kortex verändert, der an der Sprachproduktion beteiligt ist (Broca-Areal), genau wie auch andere Hirnareale, die an einer Vielzahl neurologischer Aufgaben beteiligt sind, darunter sowohl die Sprachverarbeitung als auch das Nachdenken über den Geist anderer;
4. Ihr verbales Gedächtnis verbessert und die Aktivierung Ihres Gehirns bei der Sprachverarbeitung erweitert;
5. Ihre Gesichtserkennungsverarbeitung in die rechte Hemisphäre verlagert. Normale Menschen (aber nicht Sie) verarbeiten Gesichter fast gleichmäßig in der linken und der rechten Seite des Gehirns, doch diejenigen mit Ihrer besonderen Fähigkeit nutzen eher die rechte Hemisphäre;
6. Ihre Fähigkeit, Gesichter zu identifizieren, reduziert, wahrscheinlich, weil Sie bei der Modifikation Ihrer linken ventralen okzipito-temporalen Region in ein Gebiet vorgestoßen sind, das normalerweise auf die Gesichtserkennung spezialisiert ist;
7. Ihre normale Neigung zur ganzheitlichen visuellen Verarbeitung zugunsten einer analytischeren Verarbeitung reduziert. Sie verlassen sich mehr auf die Zerlegung von Szenen und Objekten in ihre Bestandteile und weniger auf umfassendere Konfigurationen und Gestaltmuster.
Von welchem geistigen Vermögen ist hier die Rede? Was konnte Ihr Gehirn derart umgestalten und Sie sowohl mit neuen, spezialisierten Fähigkeiten ausstatten als auch spezifische kognitive Defizite hervorrufen? Man nennt diese exotische Fähigkeit ‚Lesen‘ […].“
In diesem Zusammenhang kommt Luther ins Spiel. Der übersetzte nicht nur die Bibel ins Deutsche, sondern forderte zugleich, dass jedermann eine persönliche Beziehung zu Gott und Jesus entwickeln und daher in die Lage versetzt werden müsse, das Buch der Bücher auch eigenhändig lesen zu können. Luther richtete an die zum Protestantismus konvertierten Fürsten seiner Zeit das Ansinnen, durch die Einrichtung von Volksschulen genau dafür Sorge zu tragen. Zuvor, so Henrich, „konnten nie mehr als etwa 10 Prozent der Bevölkerung einer Gesellschaft lesen, und in der Regel waren es noch wesentlich weniger. Doch dann begann sich die Alphabetisierung im Westeuropa des 16. Jahrhunderts plötzlich epidemisch auszubreiten“ und schuf den Boden dafür, dass die „als Industrielle Revolution bekannte Explosion von Innovation und Wirtschaftswachstum […] England und dann den Rest Europas […] im späten 18. Jahrhundert“ treffen konnte.
Die Aufnahme von Henrichs Wälzer durch die Kritik könnte extremer kaum ausfallen:
- „Phänomenal. Die einzige mir bekannte Theorie, die allgemeine Merkmale der menschlichen Psychologie im Weltmaßstab erklären will.“ (Coren Apicella, The Washington Post)
- „Eines der faszinierendsten Bücher der letzten Jahre.“ (James Marriott, The Times)
- „Brillant – zugänglich, spielerisch und wissenschaftlich – stellt das Buch die konventionelle Geschichte auf den Kopf.“ (Simon Sebag Montefiore, BBC)
- „So beachtlich viel Wissen Joseph Henrich in seiner Universaltheorie auch kompiliert (allein das Literaturverzeichnis umfasst neunzig Seiten), hinterlässt sein Buch den schalen Geschmack von Abendlandsduselei.“ (Oliver Jungen, FAZ)
- „Der wunde Punkt des Buches sind […] die Studien, auf denen es basiert. Experimentelle Sozialstudien sind keine beinharte Wissenschaft.“ (Jens-Christian Rabe, Süddeutsche Zeitung)
- „Kolonialismus, Sklaverei, Genozide werden ausgeblendet. […] Das sollte man bei der Lektüre des Buches im Hinterkopf behalten, um nicht gleich einer neuen Denkverzerrung zu erliegen, während man noch über andere aufgeklärt wird.“ (Volkart Wildermuth, Deutschlandfunk Kultur)
Gerade das letztgenannte Defizit schmälert den Wert des Buches doch erheblich, denn ohne diese dunkle Seite des Aufstieges des Abendlandes, die Marx so treffend in seinem Kapitel „Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation des Kapitals“ analysiert und beschrieben hat, hätte auch ein alphabetisiertes kollektives Gehirn keine Industrielle Revolution in Gang setzen können.
Joseph Henrich: Die seltsamsten Menschen der Welt. Wie der Westen reichlich sonderbar und besonders reich wurde (Übersetzung: Frank Lachmann / Jan-Erik Strasser), Suhrkamp, Berlin 2022, 917 Seite, 34,00 Euro (gebunden), 29,99 Euro (Kindle).
Schlagwörter: Abendland, Alfons Markuske, Gehirn, Joseph Henrich, Katholizismus, Lesen, Luther, Menschen, Protestantismus, Westen