Seinen traditionellen Sommerauftritt im rumänischen Kurort Băile Tuşnad (ungarisch Tusnàdfürdö) nutzte Viktor Orbán, Ungarns Ministerpräsident, in diesem Jahr, um sich laut und deutlich zum russischen Krieg gegen die Ukraine zu äußern. Er hält, so wurde der Zuhörerschaft schnell klargemacht, wenig bis nichts vom Herangehen der Europäischen Union im brudermörderischen Konflikt nebenan, im Gegenteil – er verurteilt scharf, was die Gemeinschaft bislang unternimmt. Seine nationalistisch gefärbte Attacke gegen Brüssel – von rumänischer Seite ohnehin mit größtem Argwohn beobachtet – reiht sich nahtlos ein in die fast schon meisterlichen Provokationen, mit denen er immer wieder in die Schlagzeilen der Medien gelangt. Im Juli 2010 hatte er an gleicher Stelle seine sogenannte illiberale Demokratie ausgerufen, eine jetzt anbrechende Wende hin zur nationalen Politik angekündet, die die Fehler der demokratischen Wende von 1989/90 gründlich beheben werde. Wer es nicht besser wüsste, der könnte heuer sogar meinen, Orbáns Redetext sei in den Grundzügen zuvor mit Moskauer Amtsstuben wenigstens abgesprochen worden.
Den Krieg gegen die Ukraine habe Russland laut Orbán-Rede vom Zaun gebrochen, weil Moskau vom Westen eine verlässliche Sicherheitsgarantie brauche, die es aber bislang nicht bekommen habe. Die Russen gingen nun zwar im alten Stil und ganz nach altem Muster vor, keine Frage, doch bedeute das nicht, dass dieses Vorgehen keinen Sinn mache. Russland werde die Ukraine übrigens solange angreifen und unter Druck setzen, solange die Gefahr bestehe, selbst vom Territorium der Ukraine aus beschossen werden zu können. Das Ziel der EU in diesem Konflikt sollte also der verlässliche Frieden sein, nicht – wie jetzt verlangt – der Sieg Kiews.
Überhaupt folge die EU, so der ungarische Ministerpräsident nun scharfsinnig, einer Strategie, die auf vier Annahmen gegründet sei: Erstens werden die Ukraine den Krieg gewinnen, zweitens würden die verhängten Sanktionen gegen Russland und vor allem gegen dessen Führung ihre Wirkung nicht verfehlen, drittens träfen die Sanktionen Russland mehr noch als Europa, viertens schließlich werde die übrige Welt Europa bei dessen Eintreten für die Ukraine und gegen Russland beistehen. Alle vier Annahmen, so Orbán, hätten sich als falsch herausgestellt, die Strategie sei Dominostein für Dominostein umgefallen. Es sei mittlerweile also ganz so, als führe das Auto mit vier zerplatzten Reifen!
Interessant dann aber, dass Orbán ungeschminkt auf das polnisch-ungarische Verhältnis zu sprechen kommt. Der jetzige Krieg in der Ukraine habe das Verhältnis zwischen Warschau und Budapest schwer belastet, wenn nicht erschüttert. Es brauche nun alle vernünftige Anstrengung, zu retten, was zu retten sei – für die Zeit nach dem Krieg. Soweit Orbán. Tatsächlich haben Polens Nationalkonservative in der Frage des Krieges gegen die Ukraine einen völlig anderen Kurs eingeschlagen. Für Warschau ist und bleibt Kiew entscheidend, nicht Moskau. Orbáns drastisches Bild der vier zerplatzten Autoreifen ruft hier nur ein erstauntes bis entsetztes Kopfschütteln hervor. Zudem haben die Kaczyński-Leute kaum eine andere Wahl, die öffentliche Meinung würde sie nämlich gehörig zerpflücken, gäbe es das leiseste Zugeständnis an den Orbán-Kurs.
Übrigens hatte Jarosław Kaczyński 2016 selbst noch versucht, sich deutlich vom Ukrainekurs der liberalen Vorgängerregierung abzusetzen, der auf volle Unterstützung angelegt war, indem der Kiewer Führung öffentlich beschieden wurde, ein Weg des Landes in die Strukturen der EU sei mit Stepan Bandera im Gepäck kaum vorstellbar. Dem Seitenhieb mit schwierigster bilateraler Geschichte folgte die schnelle Antwort Kiews: Wieso, ihr Polen seid mit Józef Piłsudski schließlich auch hineingekommen! Von diesem schönen Geplänkel will jetzt in Warschau niemand etwas wissen, die Lage gilt als viel zu ernst. Das ganze Land steht sowieso entschieden hinter dem Verteidigungskrieg der Ukraine, ohne nennenswerte Abstriche. Zuletzt wurde das überaus deutlich, als die nationalkonservative Regierung schnell abwiegelte, während beim Nachbarn Deutschland die Bandera-Frage plötzlich kurz hochgekocht wurde.
Was Orbáns provokante Äußerungen im historischen Szeklerland für die Zukunft der Visegrád-Gruppe bedeuten, bleibt abzuwarten. Im Augenblick sind Spitzentreffen zwischen Budapest und Warschau kaum vorstellbar. Im kommenden Jahr wird es im Herbst in Polen Parlamentswahlen geben – Orbán hatte die seinen im Frühjahr überaus erfolgreich für sich entschieden. In Warschau müssen die Nationalkonservativen durchaus zittern, die Umfragewerte verraten einen Kampf auf Messers Schneide. Nun ausgerechnet in der Ukrainefrage in trübes Budapester Fahrwasser zu geraten, könnte schnell ins ungewollte Aus führen. Viel lieber kramen die Nationalkonservativen in Polen jetzt ein diffuses, gegen Deutschland gerichtetes Feindbild hervor. Ministerpräsident Mateusz Morawiecki meinte jüngst im Regierungsrundfunk, dass Kaczyński sein Heimatland fest und unerschütterlich liebe. Bei Donald Tusk, dem liberalen Herausforderer, lägen die Dinge indes anders, liebe der doch offensichtlich ein ganz anderes Land …
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