Dem 95. Gründungsjahrestag der chinesischen Volksbefreiungsarmee (VBA) am 1. August wird in diesem Jahr besonders große Bedeutung beigemessen. Frage dabei ist: Wird sich China im Weiteren auf ein Wettrüsten mit den USA und deren Verbündeten Japan und Südkorea in Ostasien sowie Australien und Neuseeland im Südpazifik einlassen? Mehr noch: Auf ihrem Gipfeltreffen in Madrid Ende Juni 2022 definierte die NATO, einst als „regionales Defensivbündnis“ deklariert, in ihrem neuen strategischen Konzept erstmalig China als „systemische Herausforderung“ und dass Peking für die NATO eine der „strategischen Prioritäten in der nächsten Dekade“ sein werde. Die Konzeptparagrafen 13 und 14 beschwören eine „Gefahr“ durch die VR China, vor allem bezogen auf seine militärische Aufrüstung, Cyber–Operationen und Versuche, strategisches Material und Lieferketten unter ihre Kontrolle zu bringen.
Über Aussagen chinesischer Wissenschaftler lanciert konterte Peking sofort scharf, wenn die europäischen NATO-Mitgliedsländer nicht die Initiative ergreifen, Einfluss auf die USA auszuüben, sie ein Werkzeug amerikanischer Manipulation gegen China seien. China lehne das strategische Konzept der NATO entschieden ab, weil es angefüllt sei mit Kaltem Kriegs-Denken und ideologischen Vorurteilen.
Diese Konfrontation hat sich insbesondere seit dem Machtantritt von US-Präsident Trump 2017 zugespitzt, zugleich veränderte sich die VBA seitdem qualitativ. 2016 wurde die weitreichendste Strukturreform der VBA seit über 60 Jahren eingeleitet, bis zum 100.Jahrestag der Gründung der Volksrepublik am 1.Oktober 2049 soll sie eine „Armee von Weltrang“ sein. Auf dem Weg dahin wird der Verteidigungshaushalt alljährlich aufgestockt. Für 2022 beläuft er sich auf rund 216,44 Mrd. US-Dollar, ein Plus von 7,1 Prozent zu 2021 (1.350 Mrd. Yuan, circa 209 Mrd. (US-Dollar). Damit gibt China derzeit rund 1,3 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für sein Militär aus, die USA 3,48 Prozent in 2021.
Was tun mit dem vielen Geld zur Ressourcenverwendung? Zwei Beispiele neuerer militär- und rüstungspolitischer Entwicklungsrichtungen verdeutlichen das tiefe Dilemma heutiger Außen- und internationaler Sicherheitspolitik, denn Rüstungskontrolle, -begrenzung oder gar Abrüstung liegen in weiter Ferne.
So lief Mitte Juni 2022 Chinas dritter Flugzeugträger „Fujian“ in Shanghai vom Stapel, ein 80.000-Tonner neuen technologischen Standards. Das Verteidigungsministerium betonte dazu, dass Chinas Militärdoktrin defensiv bleibe, dass das zukünftige Flugzeugträger–Bauprogramm aber „von Sicherheitserfordernissen“ abhänge. Denn das neue NATO-Konzept und die ständige systematische Bedrohung gegenüber China durch die USA mache klar, dass es um eine fortgesetzte Schwächung der Sicherheitsumgebung Chinas gehe. Man ziele deshalb darauf, sich mit militärischer Weltklasse-Ausrüstung selbst verteidigen und den Frieden sichern zu können.
Diesem Anliegen ist auch das zweite prägnante Beispiel aktueller militärischer Aufrüstung und der damit verknüpften politischen Konfrontation zuzuordnen: Im Juni 2018 wurde unter US-Präsident Trump das „Space Operations Command“, eine Weltraumarmee (Space Force), gegründet. Sie wird ausgebaut und soll 2023 über einen Jahresetat von 24,4 Milliarden US-Dollar verfügen. Die Begründung dafür ist bekannt – „die Bedrohung durch China und Russland im All nimmt zu, deshalb wird die Rolle der Space Force immer wichtiger“, so ihr kommandierender General J.W. Raymond. Aktuell geht es beispielsweise darum, dass US-„Überwachungssatelliten“ in enger Nachbarschaft zur geostationären Umlaufbahn chinesischer Satelliten deren Kommunikation abhören, kontrollieren oder stören. Chinesische Raumfahrtexperten kritisieren das US-Vorgehen als generelle „echte Gefahr“ für die Weltraumsicherheit und als Weiterführung des neuen Kampffeldes der Militarisierung und Bewaffnung des Weltraums.
Ständig verschärfen sich Spannungen um die Insel Taiwan – für China seine 23. Provinz, für die USA gehörig zum „first island chain“, dem dichten Ring politisch-ökonomischer und militärischer US-Stützpunkte, einbezogene Länder wie Japan, Südkorea, Australien und Neuseeland im indo-pazifischen Raum, alles in allem aktualisierte Bestandteile der geopolitischen Eindämmungsstrategie (containment policy) gegen die Sowjetunion / Russland und China, die Washington seit 1947 ständig ausgebaut hat. China hält dagegen und forciert erheblich den Ausbau seiner Seestreitkräfte und der Luftwaffe flankiert von der klaren politischen Ansage, dass es sich in seiner inneren Angelegenheit Festlandchina–Insel Taiwan von den USA nicht das Heft des Handelns aus der Hand nehmen lasse. Und absehbar ist, dass die Beziehungen China – USA in ein noch tieferes Loch fallen werden, falls die Sprecherin des Repräsentantenhauses Nancy Pelosi im August Taiwan tatsächlich einen Besuch abstatten sollte.
Deutlich wird, dass China parallel zur Gewährleistung seiner militärischen Sicherheit als Hauptrichtung seines außen- und sicherheitspolitischen Vorgehens aber der weiteren Stärkung seines wirtschaftlichen Potentials absoluten Vorrang einräumt. Im Westen wird nun befürchtet, dass Peking Allianzen schmieden wolle, um bis zum 100. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik 2049 einen „chinesischen Traum“ zu verwirklichen und zur weltweit dominierenden Supermacht aufzusteigen. Ein von den USA diktiertes Konfrontationsdenken spielt hier wohl auch eine Rolle, mitgeleitet von den Interessen ihres übermächtigen Militärisch-Industriellen Komplexes.
China setzt dem seine wachsende wirtschaftliche Stärke entgegen. Ein Schwerpunkt dabei ist, die Neue Seidenstraße Initiative (BRI), 2013 von Xi Jinping verkündet, kontinuierlich auszubauen in die Länder der ASEAN, nach Südasien, in die zentralasiatischen Staaten, nach Russland und Europa. Längerfristig ständig intensiver werden ebenso Länder Ostafrikas in die BRI einbezogen. Damit verknüpft ist die 2001 gegründete Shanghai Organisation für Zusammenarbeit (SOZ), die Wirtschafts-, Handels- und sicherheitspolitische Themen behandelt. Sie erfasst circa 40 Prozent der Weltbevölkerung und ist die größte Regionalorganisation der Welt mit Beobachterstatus bei der UNO seit 2004. Das alljährlich tagende Bo´ao-Forum wurde zu einer Art „asiatisches Davos“ und erst recht ein Schwergewicht im politisch-ökonomischen Strategieinstrumentarium ist das „Forum für Kooperation China – Afrika“, existent seit 2000. Von China initiiert nahm 2016 die Asiatische Infrastruktur–Investitionsbank (AIIB; Sitz in Peking) ihre Geschäftstätigkeit auf. 87 Länder sind beteiligt, 16 weitere können zukünftig Mitglied werden. Nicht einbezogen sind die USA und Japan. Demgegenüber war Deutschland 2015 eines der AIIB-Gründungsmitglieder. Die AIIB steht im Wettbewerb zum US-dominierten Internationalen Währungsfonds und zur Weltbank und trägt dazu bei, dass Chinas Währung Renminbi (Yuan) seit 2015 zu den Welt-Leitwährungen (US-Dollar; Euro; britisches Pfund; japanischer Yen) zählt. Eingeschätzt wird in China, dass nach 2025 US-Dollar, Euro und Yuan global maßgeblich als Transaktions- und Reservewährungen genutzt werden, die Dominanz des US-Dollars dabei aber kräftig schrumpfen werde. Das umso mehr, da China als global größter Binnenverbraucher-Markt (Bevölkerung zurzeit 1411 Millionen) und führende Welthandelsnation in der Lage sein wird, diesen Kurs durchzuhalten.
Aus chinesischer Sicht zeigt sich, dass China mit seiner Synthese aus strikter politischer Rahmensetzung zur Entwicklung einer gelenkten Marktwirtschaft in der Lage ist, seine Verteidigungskraft hinreichend zu verstärken, ohne sich auf ein Wettrüsten einzulassen. China sieht sich so selbst als ein Stabilitätsanker für die globale Entwicklung auf der Grundlage der friedlichen Koexistenz.
Dr. phil. Werner Birnstiel, Sinologe und Politologe, arbeitete in den DDR-Botschaften in Peking und Pyongyang und ist seit 1991 als Wirtschaftsberater für ostdeutsche KMU tätig. Er lebt in Berlin.
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