25. Jahrgang | Nummer 13 | 20. Juni 2022

Erlesenes – Edels Berliner Westen, Stöckels Bärensuche und „Jud Süß“

von Wolfgang Brauer

Um das Jahr 1900 herum war Edmund Edel in der Berliner Kunst eine prägende Erscheinung. Jedenfalls in der Gebrauchsgrafik. Und die war seit Ernst Litfaß im Stadtbild nicht mehr wegzudenken. Edel fertigte Plakate, vorzüglich Lithos in der Nachfolge Toulouse-Lautrecs, so für die Berliner Morgenpost des Ullstein-Verlages. Seine Karikaturen zierten die Zeitschriften Der wahre Jacob und Ulk. Für Ernst von Wolzogens „Überbrettl“ entwarf er Kostüme. 1903 wechselte er plötzlich das Metier und wurde Schriftsteller. Gut 30 „Gesellschaftsromane“ flossen aus seiner Feder, dazu eine Vielzahl exzellenter Feuilletons. Damit nicht genug stand er an der Wiege der deutschen Filmindustrie, seine Mitwirkung als Regisseur und Filmautor ist für mindestens 40 Streifen belegt. In seinem Stummfilmdrama „Die Börsenkönigin“ (1916/1918) spielte Asta Nielsen die Hauptrolle. Weshalb nur ist Edmund Edel ein fast Vergessener? Immerhin hatte der Grafiker und Schriftsteller Peter Edel seinem Großvater im ersten Band der Autobiographie „Wenn es ans Leben geht“ (1979) ein berührendes Portrait geschrieben. Zu einer nachhaltigen Wiederentdeckung führten jedoch auch die Bemühungen des Enkels nicht. Vielleicht ändert sich das jetzt.

Björn Weyand – ich hatte bereits auf seine Bemühungen um Otto Julius Bierbaum aufmerksam gemacht – hat das Wagnis begonnen, Edmund Edels „Werke“ herauszugeben. Als erster Band erschien bei Quintus „Berlin W. Ein paar Kapitel von der Oberfläche“ (1906). Edel zeichnet in diesem Buch nicht mehr und nicht weniger als ein Sittenbild des Berliner Großbürgertums der wilhelminischen Vorkriegszeit. Auch wenn dieses Berlin-W. seinerzeit noch Charlottenburg hieß oder Schöneberg oder auch Wilmersdorf und zum proletarischen Osten, dem eigentlichen Berlin hinter dem Schloss, auf Abstand hielt: „Da eines Tages war es da, wie eine Seifenblase, die schillernd, gleißend, lüstern aus dem biederen, weißen, gediegenen Seifenschaum sich aufbläht.“

Das Ganze ist eine Sammlung satirischer Feuilletons, die uns einen Blick in die Intimitäten der „Protzenburgen des Geldes“, hinter die „maßlosen Geschmacksverirrungen“ der Fassaden des „bayerischen Viertels“ erlaubt. Der Autor analysiert nicht, er schreibt auf, was er „in der Gesellschaft“ sieht. Er beschreibt die Oberfläche ohne oberflächlich zu sein. Das ist große Erzählkunst. Edmund Edel führt uns in „die Familie“ ein, wir dürfen Zoobesuch, Eheschließung und die obligatorische Sommerfrische erleben. Wir gehen zur Kunst und werden „empfangen“. Edels Erzählstil kann den spitzen Stift des Karikaturisten nicht verleugnen. Er zeichnet Individuen, die wir zu kennen glauben, das Vergangene ist nicht nur in Berlin sehr heutig – und er typisiert. Was er nicht macht: Er diskriminiert nicht. Bei aller Distanz, irgendwie mag er „seine“ Leute. Dass deren Sprösslinge es ihm nicht dankten, darauf wird sicher noch zurückzukommen sein. Ich warte mit Spannung auf die nächsten Bände dieser Reihe. Mit Alfred Kerrs Berliner Briefen lassen sich Edmund Edels Texte sicher nicht vergleichen. Aber mit Victor Auburtin und Franz Hessel spielt, respektive schreibt er in derselben Liga. Liebhabern und Feinden Berlins sei das Buch gleichermaßen empfohlen. Man fühlt seine Vorurteile bestätigt – und vom Leser unbemerkt schleift Edel sie ab.

Edmund Edel: Berlin W. Ein paar Kapitel von der Oberfläche, Quintus, Berlin 2022, 192 Seiten, 20,00 Euro.

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Marc Jander wird von seinem Chef weit weg von der Landeshauptstadt an den Rand der brandenburgischen Pampa geschickt. Er soll einen Streit zwischen den Gemeinden Branzdorf und Kloitz schlichten. Es geht um den Bärwald. Der liegt seit Jahrhunderten zwischen den Dörfern und ist seit mindestens 600 Jahren ein Zankapfel. Inzwischen versteppt und verkrautet wurde er wieder Objekt der kommunalen Begierden. Man erinnerte sich der heilenden Kraft einer dortigen Quelle und die Träume vom Thermalbad und üppig sprudelnden Fördergeldern schossen in die Höhe. Nur, wem gehört der Wald nebst Quelle? Reinhard Stöckel verhandelt den Casus in seinem neuen Roman „Bärensommer“. Ein Buch, dessen Handlungsstränge ähnlich verzwickt sind wie das Gestrüpp, das Bärwald genannt wird. Das Spuren in einem selbst zurücklässt, wenn man sich tief auf das Erzählte einlässt. In dem immer wieder ein Bär auftaucht – und spurlos wieder verschwindet. Und Miranda, die Bärenführerin – oder Miranda, die den Bären herbeihext? Und plötzlich steckt Jander, der Held des Buches, tief in seiner eigenen Geschichte drin. Er begegnete Miranda schon mehrfach … Überhaupt verschieben sich bei Stöckel die gelebten Realitäten immer wieder mit den Realien des Erinnerns, des Traums, der sich meist als Alb entpuppt. Und der wiederum ist die Widerspiegelung einst Erlebten. „Zwischen Schlafen und Wachen kommen die Bilder“, meint der Erzähler. Manche verlöschen, manche bleiben und wollen Wirklichkeit werden. Marga Bitalka schleppte den Alb aus dem Riesengebirge des Frühjahrs 1945 in das heutige Brandenburgische und will ihn einhausen. Reinhard Stöckel versucht, diese Geschichten lesbar zu machen. Er weiß um die Schwierigkeiten. „Die dunklen Kapitel bleiben ungelesen. Sicher, es gibt die offiziellen Vorleser. Doch ihre Texte stimmen selten mit den persönlichen überein.“ Das sagt Franklin, der nach Gerechtigkeit sucht und sie am Ende des Romanes auch findet. Aber anders, als alle erwarten.

Und was ist, wenn beide Texte falsch sind – oder im Wesentlichen richtig und nur frei erfunden, wie die Schenkungsurkunde des Bärwaldes? Was, wenn der Bär und Marc Jander eigentlich … und das „Kraut des Übergangs“, das olus transitus des Bärwaldes, uns Wahrheiten vermittelt, die wir überhaupt nicht wissen wollen? „Wenn die Vergangenheit zurückkommt, ist es gut, ihr Fragen zu stellen. Nur das Schweigen gibt ihr Macht!“ Das kritzelte Frau Bitalka auf ein Kindheitsfoto Janders, das der eigentlich loswerden wollte.

Nein, durch Reinhard Stöckels verzwickte und vertrackte Geschichte kommt man nicht so einfach und schon gar nicht unbeschadet durch. Alles hängt irgendwie mit allem zusammen, und nichts wird völlig völlig vergessen. Vergeben schon gar nicht. Der Autor schenkt uns ein Stück ganz große Erzählkunst.

Reinhard Stöckel: Bärensommer. Roman, müry salzmann, Salzburg – Wien 2022, 192 Seiten, 19,00 Euro.

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„Für ‚Jud Süß‘ habe ich keinerlei Schuld, und ich glaube darüber hinaus, dass es wenig Künstler in Deutschland gibt, die mit einer solchen Kraft gegen einen unmoralischen Goebbels-Befehl vorgegangen sind, wie ich es getan habe.“ So Veit Harlan am 4. Mai 1951 an den Freiburger Erzbischof Wendelin Rauch. Harlan hatte die Chuzpe, nach dem Krieg sein Machwerk als anti-antisemitischen Film umzudeuten. Es stimmt, Goebbels verlangte „den“ antisemitischen Spielfilm. Dass der Regisseur Harlan dem Begehren seines Herrn mit seinem ganzen Können nachkam, zeigt das Ergebnis. „Jud Süß“ erwies sich aufgrund seiner großen filmischen Suggestivkraft als überaus geeignet, die künftigen Täter mental handlungsbereit zu machen. Nachweisbar wurde „Jud Süß“ vor den Mannschaften aller Konzentrations- und Vernichtungslager gezeigt. Nach den Vorführungen kam es häufig zu „spontanen“ Terrorakten.

Darüber ist viel geschrieben worden. Die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des Filmes bildet auch nur den „Prolog“ des bemerkenswerten Buches von Bill Niven über „Das lange Leben eines Propagandafilmes“. Schwerpunkt des Bandes ist die Wirkungsgeschichte des Filmes nach 1945. Niven schildert ausführlich die Reinwaschungsversuche Veit Harlans Ende der 1940er Jahre. Dem gelang es immerhin, vor dem Hamburger Landgericht in zwei Prozessen bis zum April 1950 vom Vorwurf der „Beihilfe zur Verfolgung“ freigesprochen zu werden. Niven widmet sich ausführlich den darauf folgenden Auseinandersetzungen um die Person Harlans – und Kristina Söderbaums –, der sich als Sündenbock empfand. Dass das nicht ganz unberechtigt war, zeigen die Nachkriegskarrieren von Wolfgang Liebeneiner, der 1941 das Euthanasie-Machwerk „Ich klage an“ verzapfte, und Fritz Hippler („Der ewige Jude“, 1941).

Harlan blieb uneinsichtig – und sorgte auch so dafür, dass sein Film trotz des Verbotes kommerzieller Aufführungen (er ist bis heute durch die Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung als „Vorbehaltsfilm“ eingestuft) sein Gift weiter versprühen konnte. Ein besonderes Kapitel ist der Einsatz von „Jud Süß“ – und von Harlans Durchhaltefilm „Kolberg“ (1945) – in den Kinos des Nahen Ostens als antiisraelischer Propagandastreifen. Trotz aller Bemühungen um die Aufarbeitung der Shoa geistert „Jud Süß“ noch immer als filmgeschichtlicher Untoter durch die Hinterzimmer des deutschen gesellschaftlichen Bewusstseins. Das erklärt den Vorschlag Andreas Königs, auch „Jud Süß“ analog der „Mein Kampf“-Edition des Instituts für Zeitgeschichte mit anderen NS-Propagandafilmen als „kommentierte wissenschaftliche Edition“ herauszugeben. Bill Niven unterstützt in seinem Buch diese Idee.

Ich halte das für illusorisch. Solange es keine herausragende Verfilmung des gleichnamigen Feuchtwanger-Romanes gibt, wird der Harlan-Goebbels-Schinken weiter wirken. So etwas kann man nur mit Kunst begegnen.

Bill Niven: Jud Süß. Das lange Leben eines Propagandafilms, mitteldeutscher verlag, Halle (Saale) 2022, 240 Seiten, 18,00 Euro.