In der künstlerischen Fotografie der DDR gab es diesen besonderen weiblichen Blick, der sie so unverwechselbar macht. Evelyn Richter, Helga Paris, Eva Mahn, Ute Mahler, Sibylle Bergemann und etliche andere stehen für diesen Ansatz. Ihn macht eine gewisse Distanz – gerade bei Menschen-Bildern – aus, scheinbar im Widerspruch zu einer großen mentalen Nähe. Immer sind diese Fotografinnen sorgsam bemüht, die Persönlichkeit der von ihnen Abgebildeten ernst zu nehmen, alles Diskriminierende zu vermeiden. Sie blättern Charaktere auf, ohne über sie zu richten, Voyeurismus ist ihnen fern. Ihre Modelle spüren das, sie lassen die Kamera oft ganz dicht an sich heran, entblättern häufig ihr Innerstes – um sich sofort wieder zu verschließen, wenn sie Missbrauch wittern.
Sibylle Bergemann hat dies 1981 in einer Fotostrecke für die Zeitschrift Sibylle ausgenutzt, als sie in Sellin auf Rügen Maris und Liane zwischen den Strandkörben fotografierte. Die Künstlerin beabsichtigte einen strengen Blick ihrer Modelle und klopfte entsprechend alberne Sprüche, die mit grimmiger Miene kommentiert wurden. In diesem Augenblick drückte sie auf den Auslöser. Ergebnis war ein Foto, das geradezu ikonografischen Kult-Status erlangte. Für die Bildredaktion des Blattes war es zu pessimistisch, also retuschierte man für den Druck ohne vorherige Absprache mit der Autorin die Mundwinkel der beiden nach oben. Bergemann soll getobt haben und wollte wohl der Sibylle die Mitarbeit aufkündigen. Wir können froh sein, dass sie es doch nicht tat.
Das Original-Foto und die manipulierte Druckfassung sind derzeit in einer spektakulären Ausstellung mit dem ein buntes feuilletonistisches Fernsehformat parodierenden Titel „Stadt Land Hund“ in der Berlinischen Galerie in Berlin-Kreuzberg zu sehen. Mit über 200 Arbeiten Sibylle Bergemanns zwischen 1966 und 2010 – die Künstlerin starb im November 2010 – ist es die bislang größte Personalausstellung der Fotografin. Sie ermöglicht einen umfassenden Blick auf ihr Gesamtwerk.
Interessant ist, dass Bergemann – die nie auf ein abgeschlossenes Fotografiestudium verweisen konnte, mit dem späteren Lebenspartner Arno Fischer allerdings einen großartigen Lehrer an ihrer Seite hatte – von Anfang an mit ihrer sehr eigenen Bild-Ästhetik „da“ war. Die Kuratorin der Schau unternahm am Beginn des Rundgangs eine Art Rekonstruktion des ersten größeren Ausstellungsbeitrags der Fotografin 1968 in der Berliner Stadtbibliothek. Diese „Fenster-Ansichten“ – darunter ihre ersten, anlässlich eines Textes von Jutta Voigt in der vom Kulturbund herausgegebenen Wochenzeitung Sonntag publizierten Fotos – sollte man nicht ignorieren. Da scheint er bereits auf, dieser „Bergemann-Blick“ – zurückhaltend, immer auf der Suche nach dem Wesentlichen eines Motivs … Und im entscheidenden Augenblick, fast instinktiv, wird der Auslöser betätigt. Das macht große Fotografie aus.
Diese Künstlerin bewegte sich sehr sicher in der Grauzone zwischen inszenierter „Kunstfotografie“ und von der Gnade des Zufalls bedingten dokumentarischen Arbeiten. Wobei sie es im Laufe ihrer künstlerischen Entwicklung lernte, diesem Zufall durchaus auf die Sprünge zu helfen. Ein schönes Zeugnis ist die 2001 entstandene Modestrecke für die GEO. Die Zeitschrift hatte sie beauftragt, die Arbeiten der senegalesischen Designerin Oumou Sy zu fotografieren. Diese Bilder sind übrigens farbig, für Sybille Bergemann ungewöhnlich. Sie arbeitete bevorzugt in Schwarzweiß.
Manche Fotografen aus der DDR schieben ihr seinerzeit bevorzugtes Schwarzweiß-Arbeiten auf das mittelmäßige ORWO-Farbmaterial. Das ist allerdings nur die halbe Wahrheit. Viele – auch Sibylle Bergemann – billigten Schwarzweiß eine entschieden größere Abstraktionskraft zu. Der Leipziger Fotograf Helfried Strauß erklärte mir einmal, die Farbe verführe zu Idyllisierung, ja geradezu zur Lüge. „Berlin ist für mich schwarzweiß“, postulierte Bergemann noch 2009 im Rundfunkinterview mit Ina Jackson für den WDR. Entsprechend konsequent arbeitete sie mit dem Wolfener NP-20-Negativmaterial, aber auch gern mit dem körnigeren NP 27.
In der Ausstellung sind etliche Berlin-Bilder zu sehen. Das war „ihre“ Stadt. So stellt sie 1984 „Birgit“ mit wehenden Mantelschößen und langem, grobmaschigen Strickkleid – auch eine Sybille-Arbeit – auf eine langgezogene triste Berliner Ausfallstraßenbrücke. Im Hintergrund die angeschnittene Ecke eines Neubaublocks, in direkter Bezugslinie zum Model ein fetter schwarzen Rauch abgebender Fabrikschornstein. Ein Bild krassester Gegensätze. Die Situation war sicher improvisiert, aber „bei der Mode muss man schon ganz genau wissen, was man will“, erklärte die Fotografin 2007 im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. Katia Reich, die Kuratorin der Ausstellung, leitet seit November 2020 die Fotografische Sammlung der Berlinischen Galerie, sprach in der Presseführung von der „subtilen Kritik“, die in vielen Bergemann-Bildern stecke. Hier möchte ich widersprechen. Da ist nichts auf listige Weise subtil. Möglicherweise zunächst unbeabsichtigt steht hier das Bild einer selbstbewussten Frau, die Schönheit ausstellt, dezidiert gegen die Tristesse der zubetonierten Industriestadt. Hier wird Kunst widerständig. Das ist ihr Wesen. Schwarzweiß ist hier bildästhetisch geradezu zwingend. Farbe hätte nur weichzeichnerisch gewirkt.
Dabei hatte Sibylle Bergemann nach 1990 sehr schnell gelernt, souverän mit Farbmaterial umzugehen. Das war auch ökonomisch zwingend. Wer seine Fotos verkaufen wollte, kam da nicht drumherum. Dennoch: Eine Urlust zum Monochromen ist auch bei ihren Farbarbeiten aus Jemen (1999) und den afrikanischen Bildern spürbar. Eine ihrer letzten Arbeiten, „Bassé“ (2010), zeigt eine junge Frau in pinkfarbenem Kostüm, die sehr vorsichtig die Treppe eines in hellem Rot gestrichenen Innenhofs eines senegalesischen Hauses herunterschreitet. Ein atemberaubendes Bild. In der Ausstellung beschließt es den Rundgang.
Und für den sollte man sich Zeit nehmen, viel Zeit. Da sind die schon erwähnten Stadt-Bilder – neben Berlin Paris, Moskau und New York. Da sind die Modefotos, die mehr sind als Modebilder („Ich wollte eigentlich die Frauen fotografieren“, sagt sie 2009). Da ist die vom Kulturministerium der DDR beauftragte Langzeitdokumentation „Das Denkmal“ (1975–1987) über die Entstehung des Berliner Marx-Engels-Denkmals von Ludwig Engelhardt, die in ihrer ästhetischen Grundaussage über das Beauftragte weit hinausgeht. Als „Chiffre eines Scheiterns“ bezeichnet Jan Wenzel im Katalog die 22 Bilder umfassende Essenz dieses Großauftrags. Und da ist die 1988 für den stern entstandene Folge mit der Mode von „Allerleirauh“ – unter anderem mit Tochter Frieda als Model –, die die „Berlinische“ erst vor Kurzem im Dialog mit den Bergemann-Bildern präsentierte.
Etwas ganz Besonderes sind Porträts von Frauen quer über ihr Gesamtschaffen hinweg. „Ich möchte wissen, was die Leute tun“, erklärte Bergemann 1987 der Ostberliner BZA. Die Modebilder mit Katharina Thalbach aus dem Jahr 1974 sind inzwischen legendär. Man sollte die Thalbachfotos mit denen von Meret Becker (1998) vergleichen … und natürlich mit denen der Domröse, auch Inge Keller hat sich dazwischen geschmuggelt. Ein faszinierendes Bilduniversum tut sich da auf!
Ich empfand es als wohltuend, dass die Berlinische Galerie auf die inzwischen bei der Präsentation von Kunst aus der DDR nahezu unumgängliche „zeitgeschichtliche Kontextualisierung“ fast völlig verzichtet. „Zeitgeschichte verstellt Kunstgeschichte“, bringt Susanne Altmann in ihrem Katalogbeitrag diese permanenten Manipulierungsversuche auf den Punkt. Die Berlinische Galerie setzt auf mündige Ausstellungsbesucher. Und gerade die Jungen, die ich erleben durfte, denken überhaupt nicht mehr daran, sich ihr Bild von den Bildern von kunstpolitischen Überlehrern oktroyieren zu lassen. Sibylle Bergemanns Bilder sprechen für sich. Und diese Ausstellung ist hervorragend kuratiert und präsentiert sich mit beispielsetzender Hängung.
Die Kontexte lassen sich mittels des Katalogs, den Galerie-Direktor Thomas Köhler augenzwinkernd nicht ganz unbescheiden, aber mit großer Berechtigung als „Standardwerk“ pries, tiefer erschließen.
Sibylle Bergemann: Stadt Land Hund. Fotografien 1966 – 2010, Berlinische Galerie. Landesmuseum für Moderne Kunst, Fotografie und Architektur, Alte Jakobstraße 124-128, 10969 Berlin; Mi–Mo 10–18 Uhr; bis 10. Dezember 2022.
Katalog im Hatje Cantz Verlag, Berlin 2022, 264 Seiten, 34,80 Euro (Museumsausgabe), 48,00 Euro (Buchhandelsausgabe).
Anlässlich der Ausstellung entwickelte die Autorin Anne Waak ein vierteiliges Podcast-Feature „Sibylle Bergemann. Die Frau hinter den Bildern“, das über die Website des Museums abrufbar ist: bg.berlin/bergemann-podcast.
Schlagwörter: Berlinische Galerie, Fotografie, Sibylle Bergemann, Wolfgang Brauer