Diesmal: „Geht es dir gut?“ – Volksbühne / „Beyond Caring“ – Schaubühne.
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Volksbühne: Singen wie die Vöglein
„Geht es dir gut?“, fragt nicht ohne Sorge René Pollesch gleich im Titel seines jüngsten Stücks das Publikum – und natürlich auch sich selbst. Die Antwort wäre, zumindest im Hinblick aufs picknickhafte Treiben rund um den frühlingshaften Theatervorplatz, auf die gelöste Stimmung an der Foyerbar sowie im Saal bei kuschelig gedimmtem Licht und sanft säuselnder Wohlfühl-Beschallung: „Eigentlich geht’s ganz gut!“
Doch dann auf leerer Bühne der Auftritt des Stars der Veranstaltung: Der noch immer jungenhafte Benjamin Hinrichs schiebt ein Klavier vor sich her, dem er – leises Erschrecken – unheilvoll schräge Töne abringt. Ihm zur Seite gesellt sich peu à peu ein bulgarischer Chor mit wehem Schmerzensgesang. Ach, es geht wohl doch nicht so gut …
Und so ist es denn auch. Polleschs Monolog für einen Schauspieler erzählt mit leiser Traurigkeit von einer irgendwie abhanden gekommenen Liebe und schwimmt irritiert hinüber in eine Klage über den Verlust von Gegenüber überhaupt, vom Verlust direkter Beziehungen jenseits des nervend überquellenden Digitalen, von der ängstlichen Abkehr vom Anderen und dem schleichenden Rückzug auf sich selbst. Aus dem Elend des Maskentragens, dem schützenden Distanzieren durch Verhüllung erwächst, so scheint es, die Scheu, alle unsichtbaren Masken fallen zu lassen, sein offenes Gesicht zu zeigen, sein Ich. Also Einsamkeit, Isolation trotz aller Geschäftigkeit des Tages. Eingesponnen im Netz und dennoch dort verloren. Das Leben verloren oder verloren im Leben – so etwa. Eine Gestimmtheit ein bisschen wie bei Friedrich Rückert („Ich bin der Welt abhanden gekommen“). Wobei, verrückte Sache, die Welt doch gerade aus den Fugen ist wie toll. „Erst Klima, dann Corona und jetzt auch noch ein Krieg on top.“
Also mäandernde Hilflosigkeit, wuchernde Verzweiflung: „Was ist denn das grad für ne Zeit?“ Da wird man „zu Gespenstern“ bei gefühlt „30.000 Stunden Netflix gucken“, wird zum „Trümmerhaufen aus Fleisch und Blut“. Dabei möchte man „übersprudeln, aufblühen, möchte singen wie die Vöglein“ und ist doch nur müde; „hellwach müde und so merkwürdig erloschen“. Mit der dräuenden „Sehnsucht, sich irgendwo zu verankern“.
Achtzig Minuten Schwadronieren über Vereinzelung, Entfremdung, Sinnsuche – das geht nur mit einem Schauspieler wie Benjamin Hinrichs, der mit Leichtigkeit das gewagte Kunststück zustande bringt, mit zartem Charme das Lamento des Leidens auszubreiten, um es dann wiederum lakonisch-ironisch zu unterspülen, bevor sich peinliches Pathos festsetzt. Das gibt diesem herzlich depressiven, dennoch sympathisch launigen Befindlichkeitstext (Pollesch endlich einmal blutwarm, ohne eitle Diskursschwurbelei!) immer wieder heitere, komisch verrückte Momente. Zieht ihn ins Menschlich-Allzumenschliche, mithin ins – ja ins Herzbewegende.
Und schließlich winkt im allgemein heutigen, konfusen Grauen trotz hellwacher Müdigkeit mit Blick auf eine Jugend voll Kraft und Saft ein lichter Traum: „Ihr habt mir gezeigt, der Sternenhimmel ist hier unten. Ich hoffe einfach, dass es in zweihundert Jahren noch etwas gibt und nicht nichts. Der Boden auf dem wir stehen ist das höchste.“
Die Jugend, die immer wieder Hinrichs zwischen Sarkasmus und Bekümmernis wechselnden Redefluss erholsam unterbricht, das Trotzallem, das sind die sportlichen Breaker der „Flying Steps“ Streetdancer-Academy, der rhythmisch starke Chor „Afrikan Voices“ und die geradezu himmlisch entrückt singenden Mädels und Jungs von „Bulgarian Voices Berlin“. Sie alle zusammen steigen am Ende in eine phantastische, silbern gleißende Mondrakete (ein bisschen Spaß, ein bisschen Märchen muss ein) und heben ab in ihre Zukunft. Hinrichs hingegen setzt sich in einem Mercedes des Berliner Taxibetriebs ans Lenkrad und braust winkend davon. Ab in die nächste Krise… Das Publikum jauchzt hingerissen.
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Schaubühne: Momentaufnahmen aus der Mindestlohn-Hölle
Micha ist festangestellt, Teilzeit; Sonja und Becky kommen als Subunternehmerinnen über eine Fremdfirma, Ava schickt das Arbeitsamt; Chef der vier ist Jan. Sie alle treffen sich im Verladeraum einer Fleischfabrik zu Beginn der Nachtschicht. Ihr Job: Putzen. Jede Nacht, zwei Wochen hintereinander. Und alle vier Stunden 15 Minuten Pause.
Die Rackerei ist körperliche Schwerarbeit und ungesund, nicht nur wegen der chemischen Putzmittel. Die technische Ausstattung simpel: Eimer, Wischmopp, Bürsten. Der Automat in der Ecke gibt keinen Kaffee, nimmt nur Geld. Fürs Pausenbrot wird der Abstelltisch zwischen den noch ekeldreckigen oder schon gesäuberten Fleischbehältern fix abgewischt. Der Stundenlohn steckt unter Mindestlohn; Arbeitsschutz oder Gewerkschaft: Fehlanzeige. Der sadistisch veranlagte Vorarbeiter, der sich als Big-Boss für die Krone des Betriebs wie der Männlichkeit hält, treibt brutal zur Eile.
Das Doku-Stück „Beyond Caring“ („Jenseits von Fürsorge“; einer gespreizten Mode wegen gibt es keinen deutschen Titel) hat der Regisseur Alexander Zeldin vom Londoner National Theatre für Schaubühne FIND (Festival Internationaler neuer Dramatik) mit – dies sei vorweggenommen – großartigen Schaubühnen-Kräften erarbeitet.
Es ist die deutschsprachige Version der englischen NT-Uraufführung 2014, die nicht zufällig auch in Chicago gezeigt wurde. Und ist Teil der Trilogie „The Inequalities“, zu der auch die erschütternde Produktion „Love“ gehört, die zum FIND im Herbst 2021 an der Schaubühne gastierte und im normalen Grauen der Notunterkunft eines Sozialamts spielte.
Um es gleich zu sagen: „Beyond Caring“ basiert zwar auf intensiven Recherchen im einschlägigen Milieu, ist mithin dokumentarisch grundiert. Doch es ist kein aktivistisches Stück, sondern ein Kunststück, was vornehmlich dem psychologisch und gestisch präzise konturierten Spiel des Ensembles zu danken ist. Aber eben auch dem feinnervigen, tief empathischen Regisseur, der sich – man spürt es auch jetzt hier – als „Lehrling“ intensiv mit dem subtilen Filmemacher Lars von Trier befasste und mit Peter Brook arbeitete.
Seine von Handlungsentwicklungen oder dramatischen Aufgipfelungen freie Szenenfolge lebt von minimalistischen Dialogen, vom Nonverbalen zwischen den von Einsamkeit, Verbitterung, zaghaft weggesteckter Verzweiflung und offensichtlicher Armut gezeichneten Akteuren. In dieser still schreienden Skizze demonstriert sich mit starken, signifikanten Bildern das ungebremst Ausbeuterische. Es gibt keine soziale und psychologische Tiefenzeichnung der Figuren. Kein Aufschrei und kein Ausbruch. Dennoch entsteht bei all der elenden Rackerei in der kalten stinkenden Putzhölle ein freilich höchst fragiles Beziehungsgefüge. Vor allem aber entsteht ein durch detailgenaue Milieukenntnis und schmerzliche Nüchternheit die unsentimentale Draufsicht auf ein in seiner Selbstverständlichkeit unsägliches Lebens- und Leidensbild der so genannten Unqualifizierten, die im sonst eher unsichtbaren Kellerloch unserer Arbeitswelt um einen Almosen-Lohn sich kaputt schuften müssen.
Damir Avdic (der Macho-Antreiber Jan), Jule Böwe (die hilflos verhuschte Sonja), Julia Schubert (als Becky mit einem gärenden Rest Aufmüpfigkeit) und Hevin Tekin (als Ava, die tapfer ihrer Krankheit trotzt) und dazu Kay Bartholomäus Schulze (der längst total verrottete Teilzeiter, sich mit Dick-Francis-Krimis noch am Leben haltend) – sie alle geben allerhöchstens ein paar Kleinigkeiten dieser Nachtgestalten preis, umso mehr jedoch zeigen sie. Zeigen ganz einfach, ganz erschreckend ihr Joch. Ihre Angst, selbst dieses Joch noch zu verlieren, an dem doch ihre ganze Existenz hängt. Zeigen ganz einfach, wie ihre Würde getreten wird – und bleiben doch bei all ihrer Verletztheit, all ihrem Unglücklichsein würdevoll. Das ist großartig und selten so zu erleben im Theater, das ja ansonsten nur allzu gern „Unterschichten-Existenz“ mitleidheischend vorführt.
Es ist die gerade in ihrer eisigen Selbstverständlichkeit packende Momentaufnahme einer eigentlich nicht (mehr) selbstverständlichen, abseitigen Welt. Die doch so schwärend diesseitig ist. So verdeckt verdreckt allgegenwärtig.
Schlagwörter: Alexander Zeldin, Berliner Volksbühne, Mindestlohn, Reinhard Wengierek, René Pollesch, Schaubühne, Theaterberlin