Es ist Krieg in Europa. Jene, die vorher klar zu sehen meinten, dass der nicht ausbrechen würde, irrten sich. Die Wahrheit stirbt im Krieg zuerst, mahnte Stefan Zweig in der Betrachtung des ersten großen Krieges. Wem darf man glauben. Offensichtlich ist, dass die einst glorreiche Armee Russlands die Ukraine angegriffen hat, mit wie so oft irreführender Begründung und der Illusion, die Sache in einigen Tagen erledigt zu haben. Viel wird geschrieben und gesagt, vom weisen Juergen Habermas in der Süddeutschen Zeitung und von weniger Weisen. Jeder anteilnehmende, denkende Mensch wünscht nichts sehnlicher, als dass dieser Krieg sofort beendet werden möge, nur wie? Dazu muss man versuchen, klar zu denken, wissend, dass man sich erneut irren könnte.
Was ist die Ursache des Krieges? Wohl der Versuch eines neuen, alten Imperiums, sein Gebiet und seinen Einfluss auszudehnen. Dazu gibt es zwei Gründe, von denen jedoch keiner einen Krieg rechtfertigt. Zum einen die Tatsache, dass das westliche Bündnis den Aufbau einer europäischen Sicherheitsordnung, des europäischen Hauses, wie es Gorbatschow nannte, als Auftrag missverstanden hat, sich nach Osten maximal auszudehnen, wozu Putin, siehe Finnland und Schweden, nun gerade einen eigenen, sehr dynamischen Beitrag leistet. Diese Bewegung, begonnen durch die Entscheidung der Clinton-Regierung, die NATO-Grenzen bis zu Russland auszudehnen, verurteilte der große USA-Diplomat George Kennan schon 1997 als etwas, das man später bereuen würde: „Diese Entscheidung kann erwarten lassen, dass nationalistische, antiwestliche und militaristische Tendenzen in Russlands Anschauungen entfacht werden; dass sie einen schädlichen Einfluss auf die Entwicklung der Demokratie in Russland hat; dass sie die Atmosphäre des Kalten Krieges in den Beziehungen zwischen Osten und Westen wiederherstellt und die russische Außenpolitik in Richtungen treibt, die uns entschieden missfallen werden.” (New York Times, 5.2.1997). Der zweite Aspekt ist die Tatsache, dass die Ukraine immer ein Land zwischen dem Westen und Russland war, wie etwa der Polnisch-Sowjetische Krieg 1919–21 demonstrierte. Die Besetzung der Krim 2014 und von Teilen des Donbass war nur denkbar, weil dort prorussisch eingestellte Mehrheiten existierten, die sich mit der Invasion womöglich in Minderheiten wandeln. Die Geschichte der Ukraine ist eine Geschichte von Kriegen und Kampf um Gebiete eines Landes, das wohl erst 1922 mit der Eingliederung der Ukrainischen Sozialistischen Republik in die UdSSR eine Konstitution fand. Eine Hungersnot im Zusammenhang mit der Kollektivierung und Hitlers Todesmarsch durch die Ukraine bedrohten die Existenz der Ukraine, der Nikita Chruschtschow, womöglich einer Laune folgend, 1954 die eher russische Krim schenkte. Will man die heutigen Ereignisse einordnen, rechtfertigen kann man sie nicht, so sind Einblicke in die Historie eines besonders verwundbaren Landes und seines riesigen Nachbarn und früheren Partners unerlässlich.
In den 30 Jahren seit der Auflösung der UdSSR hat Russland eine dramatische Entwicklung genommen, da die Produktionsmittel in kurzer Zeit privatisiert wurden und oft in die Hand jener, oder ihrer Söhne, fielen, die gestern als Wächter des Sozialismus auftraten, nun aber das Eigentum des Volkes an sich nahmen. Die Folge war eine Verwahrlosung des Staates, der ein nie befriedetes Erbe mit sich trug, des Stalinismus, dem etwa ebenso viele Menschen zum Opfer fielen wie im Zweiten Weltkrieg. Die Idee, auf diesem Erbe ruhend, könnten sich demokratische Verhältnisse herausbilden, war und ist eine Illusion. Putins existierende Anerkennung in Russland beruhte darauf, dass er, auf den Alkoholiker Jelzin folgend, an zaristische Verhältnisse anknüpfte und für relative Ruhe in diesem Land sorgte, vor Bestrafung Oppositioneller nicht zurückschreckend. So wurde Russland eine imperiale, hoch gerüstete Macht, deren Ordnung sich einfacher Analyse entzieht, kleingeredet von Obama, der bei all seiner Intelligenz Russland nicht begriff. Dessen Vorgänger, George W. Bush, begann unter Verwendung falscher „Tatsachen“ einen brutalen Krieg in Irak, dem von 2003 bis 2011 hunderttausende Menschen zum Opfer fielen und der keinerlei völkerrechtliche Grundlage hatte. Die Reaktion der europäischen Öffentlichkeit damals steht in keinem Verhältnis zu der heutigen Reaktion auf Putins Gewalt, es gab große Friedensdemonstrationen (so im Februar 2003), doch niemand erwog, die USA und Großbritannien mit Sanktionen zu belegen. Das Verdienst von Gerhard Schröder, diesen Krieg nicht zu unterstützen, ist unbestritten. In der Hektik von Kriegen geht nicht nur die Wahrheit unter, sondern mit ihr auch manche historische Wahrnehmung.
Das mag alles so gewesen sein, aber was nun tun oder lassen? Die Antwort darauf hängt von der Einschätzung der Zukunft ab und, was Deutschland betrifft, auch von der Wahrnehmung seiner Interessen. In Artikeln wie dem von Orysia Lutsevytch im Guardian (2. Mai) wird beschrieben, dass es nur einen Ausgang geben könne, den des vollständigen Sieges der Ukraine über den Aggressor. Am 28. April erklärte die britische Außenministerin Liz Tuss, dieser Krieg ende erst, wenn Russland auch die Krim wieder abtrete. Man versteht das gut, man mag es sich wünschen, doch spricht die Asymmetrie der Kräfte dagegen, trotz der großen Bewegung und einiger Erfolge der Ukraine, die man zu Beginn des Krieges für unmöglich hielt. „Settling this war in a sustainable way“, die Beendigung des Krieges in einer nachhaltigen Weise, wie Lutsevytch schreibt, ist unrealistisch, wenn man sie sich als Vertreibung der russischen Armee aus der Ukraine vorstellen soll. Die Frage, ob man daran glaubt oder nicht, bestimmt die Handlungen und Reaktionen von Regierungen und Menschen. Wird ein in die Enge getriebener Putin einsichtig abziehen? Wenn das in Frage käme, warum ist er dann losmarschiert? Kann die ukrainische Armee die russische besiegen? Ja, sagen die einen, wenn wir immer mehr und schwerere Waffen liefern, nein, sagen die anderen, weil Russland viel zu große Reserven hat und ferner, weil dies mit großer Wahrscheinlichkeit eher zur Eskalation als zum Kriegsende führen würde. Die Gefahr eines großen europäischen oder Weltkrieges ist so real wie nie seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Das erste Land, das diesem zum Opfer fiele, wäre die Ukraine. Es braucht angesichts des möglichen Untergangs ganz Europas die Bereitschaft zur Verhandlung mit den Kremlherren und zum Kompromiss. Und es braucht den Einfluss der Welt, der UNO, der KSZE, um die Ukraine in diesen Verhandlungen zu unterstützen.
Im Jahre 1955 erschien das Manifest von Bertrand Russell und Albert Einstein „Eine Stellungnahme zur Atomkriegsführung“, das nicht nur auf den möglichen Untergang der Menschheit in einem atomaren Krieg hinwies, sondern ein neues Herangehen an Konflikte verlangte: „Wir müssen lernen, auf neue Art zu denken. Wir sollten nicht mehr danach fragen, welche Mittel und Wege dem militärischen Siege der von uns bevorzugten Partei offen stehen. Solche Möglichkeiten gibt es nämlich gar nicht mehr … Erinnert Euch Eures Menschseins und vergesst alles andere! Wenn Ihr das vermögt, dann öffnet sich der Weg zu einem neuen Paradies. Könnt Ihr es nicht, dann droht Euch allen der Tod.“ Heute, 67 Jahre danach, wird wieder über den Einsatz von Atomwaffen geredet, als sei dies eine Option der Kriegsführung, gibt es doch nun taktische Atomwaffen. Allein der Gedanke an eine solche Möglichkeit ist unglaublich.
Es sei daran erinnert, dass die Ukraine im Jahre 1994 auf die sowjetischen Nuklearwaffen auf ihrem Territorium verzichtete, woraufhin ihr, wie auch Belarus und Kasachstan, im Budapester Memorandum von den USA, Russland und Großbritannien die Unverletzlichkeit der Grenzen garantiert wurde, ein Abkommen, das nur bis 2014 hielt und nun erneut und eklatant gebrochen wurde. Die Erwähnung eines nuklearen Krieges durch Außenminister Lawrow dieser Tage ist ein untragbarer Vorgang, der natürlich Methode hat, zur Einschüchterung des Westens und als Schild, hinter dem man seine „Spezialoperation“ gerne absolvieren möchte. Wieder entsteht die Frage, was man glauben möchte, ist das alles nur russischer Nebel oder ist eine solche Gefahr real? Kann man denn in Kriegszeiten glauben, man kontrolliere die Antworten? Nein, das kann man nicht. Man muss davon ausgehen, bei Strafe des Untergangs, dass die atomare Bedrohung real ist. Wenn dem so ist, dann muss man diesen Krieg beenden und darf ihn nicht durch umfangreiche Waffenlieferungen befördern, an denen allein die Rüstungsindustrie verdient.
Die Frage ist, darf man denn die Ukraine ohne schwere Waffen lassen? Die schwere Antwort vieler ist, ja, man muss es. Kiews Bürgermeister Klitschko nennt das „feige“, als ginge es um eine Mutprobe. Man muss ihn verstehen, es ist einfach, solche Gedanken zu äußern, viel einfacher als in Kiew den Widerstand zu organisieren, jedoch muss man Klitschko nicht folgen. Es gibt keine militärische Lösung gegen diese Armee, sondern nur den zivilen Widerstand, die vereinte Diplomatie, den unausweichlichen Kompromiss unter Betrachtung der historischen und aktuellen Entwicklung, je eher dieser geschlossen ist, desto kleiner ist die Zahl der Opfer. Es ist leicht, wie Boris Johnson am 3. Mai gegenüber dem ukrainischen Parlament, von Sieg zu reden, insbesondere dann, wenn das so schön von der Unmoral der eigenen Herrschaft in London ablenkt und andere diesen Kampf ausfechten sollen, denen man werbewirksam die Hand schüttelt. Ein deutscher Kanzler, der nachdenkt, ist ein besserer Hüter seines Volkes.
Die deutsche Situation in diesem Krieg ist anders als die anderer EU-Staaten. Deutsche Soldaten haben Millionen Sowjetbürger ermordet, ein neuer deutsch-russischer Krieg würde sich, auch konventionell, sehr wahrscheinlich extra katastrophal entwickeln, da diese ganze Geschichte über uns käme. Aus Sicht eines DDR-Bürgers ist diese Vorstellung besonders absurd. Der deutsche Kanzler wird vereidigt mit dem Ziel, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden, nicht, es in einen neuen Krieg zu führen, in den es zunächst nicht verwickelt ist. Das bedeutet, die eigene Wirtschaft nicht nachhaltig zu schädigen, also die Energieversorgung aufrechtzuerhalten. Des Altbundespräsidenten Gauck Bemerkung, für die Freiheit könne man frieren, ist unredlich und kaum mehrheitsfähig, jedenfalls nicht unter Menschen, die in ferngeheizten Hochhäusern wohnen. Die Forderungen und oft groben Äußerungen von Botschafter Melnyk, der nicht einmal ein Konzert mit russischer Musik besuchen wollte, haben die objektive Wirkung, vielleicht gar den Zweck, Deutschland virtuell und womöglich real zur Kriegspartei zu machen. Dies ist aber keinesfalls im Interesse dieses Landes und wohl kaum der Ukraine, da es diesen nationalen zu einem europäischen Krieg machen würde mit schrecklichen Folgen für die Ukraine. Statt das in Ruhe zu bedenken, meint Melnyk, als Opfer Russlands, die deutsche Politik beleidigen zu dürfen. Wer gibt ihm dazu eigentlich das Recht und warum täglich ein Mikrofon? So ist ruhiges Nachdenken erforderlich, damit Deutschland diese Krise überlebt, und der Ukraine doch geholfen werden kann.
Zu diesem Nachdenken gehört die im Blättchen schon behandelte Frage, welche Rolle Kultur und Wissenschaft heute und morgen spielen sollen in solch einer Zeit. Immanuel Kant lebte im 18. Jahrhundert und verließ Königsberg nie. Heute ist die Wissenschaft grenzüberschreitend, durch ihre intellektuellen und technischen Anforderungen jedoch auch durch ihre Wirkung auf den kulturellen Austausch und das gegenseitige Verständnis sonst fremder Kulturen. Mit dem Angriff auf die Ukraine, auf der Suche nach Gegenmaßnahmen, entstand maßgeblich in Deutschland die merkwürdige Idee, man müsse die wissenschaftliche Zusammenarbeit (zeitweise) beenden, um Putin zu zeigen, welchen Schaden sein Krieg anrichtet. Wie kann man nur so denken! Die russische Wissenschaft ist groß wie das Land, in dem sie entsteht, vieles kann man nicht einfach woanders bestellen, der Schaden für die eigene Wissenschaft ist immens. Russische Wissenschaftler haben oft jahrzehntelange Beziehungen zu ihren Kollegen aufgebaut, großes zu den Erfolgen anderer Institute, wie des DESY (Deutsche Elektronen-Synchrotron) in Hamburg, beigetragen. Nun werden sie ausgeladen, da sie die falsche Regierung haben. Man sagt und weiß, es gibt unter ihnen solche, die diesen Krieg begrüßen, man glaubt es zu wissen, denn in Russland das Gegenteil zu erklären ist gefährlich. Das mündet in den unmöglichen Versuch, zwischen guten und bösen Russen zu unterscheiden, den Nida-Rümelin bereits mit der McCarthy-Zeit verglich. Das Abbrechen jeder Zusammenarbeit macht es genau jenen besonders schwer, denen sie immer am Herzen lag. Die Wiederaufnahme der Kooperation wird nicht ohne Schaden möglich sein, in Zeiten wie diesen ist das Mitdenken der Zukunft besonders schwer, jedoch umso mehr vonnöten. Wissenschaftler und Kulturschaffende waren und sind Träger der Verständigung, Schöpfer von Vertrauen, Botschafter ihrer oft fremden Kultur, die man begreifen und nicht verteufeln muss. Keinen Militär wird es rühren, dass ein Dirigent verstoßen wird oder zwei Institute der Physik nun in Schweigen verfallen. Der Boykott von Wissenschaft und Kultur muss aufhören, da er sinnlos ist, nicht einmal in Zeiten des Kalten Krieges versucht wurde, im Gegenteil, damals baute man Brücken oder Tunnel, um zu kooperieren.
Was bleibt zu sagen. Dieser Krieg ist, wie andere auch, sinnlos, zerstört Leben, Werte, Hoffnungen. Seine Beendigung ist ohne Verhandlungen und Kompromisse, wie auch Jürgen Habermas feststellte, mit dem Aggressor nicht möglich, da die Ukraine Russland wohl kaum besiegen kann und Russland von allein nicht aus der Ukraine abziehen wird. Die Eskalation dieser Auseinandersetzung zu einem europäischen oder Weltkrieg ist eine reale Gefahr, und es ist nicht feige, sondern geboten, diese Gefahr zu minimieren. Europa, inklusive Russland, braucht Frieden, eine Wiederaufnahme der Zusammenarbeit und einen Bauplan für das europäische Haus, der die heute leichtfertig kritisierte Politik von Brandt, Bahr, Steinmeier, Merkel einbeziehen muss, da deren Alternative endloser Kampf, sinnlose Sanktionen und also eine langfristige Belastung der europäischen Zukunft oder gar deren Ende ist. Man wird solche Haltung einen schönen Traum nennen, wogegen nichts einzuwenden wäre.
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