Der US-amerikanische Spitzendiplomat und Historiker Georg F. Kennan (1904–2005) – übrigens ein Kritiker der NATO-Osterweiterung – schrieb Ende der 1980er Jahre: „Sollte die Sowjetunion morgen untergehen, müsste das amerikanische militärisch-industrielle Establishment grundlegend so weitermachen wie bisher, bis ein anderer Gegner erfunden („invented“) ist. Alles andere würde zu einem inakzeptablen Schock für die amerikanische Wirtschaft führen.“ Und Präsident Donald Trump erklärte 2019 den Interviewern von Fox News, „Macht euch nichts vor, es gibt einen militärisch-industriellen Komplex und der liebt Kriege.“ Die USA geben, werden alle versteckten Nebenausgaben hinzugenommen, jährlich fast 1 Billion Dollar (3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts) für Rüstung aus, was für eine riesige Beschäftigung nicht nur in den militärischen und Verteidigungsstrukturen, sondern natürlich auch in Industrie und Dienstleistungen sorgt.
Es stimmt schon, was ich jüngst (Blättchen 8/2022) über die negativen wirtschaftlichen Folgen des Krieges auch für den Westen schrieb, aber wenn ungenutzte Produktionskapazitäten und wegen einer gewissen Beschäftigungslosigkeit kurzfristig Arbeitskräfte verfügbar sind, gilt natürlich, was schon John M. Keynes feststellte: „Das Bauen von Pyramiden, Erdbeben, selbst Kriege mögen dazu dienen, den Reichtum zu vermehren, wenn die Ausbildung unserer Staatsmänner in den Grundsätzen der klassischen Wirtschaftslehren etwas Besserem im Wege steht.“ Zu Keynes‘ Zeit waren solche Pyramiden die riesigen Infrastrukturprojekte und die Aufrüstung vor und im Zweiten Weltkrieg, die halfen, die Depression der 1930er Jahre zu überwinden. Das Bruttoinlandsprodukt der USA verdoppelte sich real bis 1944 gegenüber dem letzten Vorkriegsjahr. Und es ist dieser Satz von Keynes, der in den 1950/1960er Jahren zum Begriff des Rüstungskeynesianismus führte. Die angehäuften Waffensysteme müssen auch zu Friedenszeiten, sollen sie nicht gänzlich veralten, irgendwann verbraucht werden, damit Nachschub produziert werden kann. Der Staat bestellte diesen Nachschub und finanzierte das mit Krediten. Wie weitsichtig war der Hersteller Krauss-Maffei Wegmann, als er die vor zehn Jahren ausgemusterten Gepard-Panzer von der Bundeswehr zurücknahm und nicht verschrottete, sondern auf „bessere Zeiten“ hoffte, um sie doch noch an den Mann zu bringen, sprich: auf Kosten der Steuerzahler in die Ukraine liefern zu können!
Nun ist auch die Bundesregierung zum Rüstungskeynesianismus umgeschwenkt und will mittels Defizit Spending umgehend das 2-Prozent-Ziel der NATO für Rüstungsausgaben erreichen. Im Bundeshaushalt 2022 ist die Rekordsumme von 50 Milliarden Euro für den Verteidigungsetat vorgesehen. Hinzu kommt das kreditfinanzierte Sondervermögen von 100 Milliarden Euro. Formal verletzt dessen Kreditfinanzierung nicht die sogenannte Schuldenbremse des Grundgesetzes, weil es, wie andere Sondervermögen des Bundes auch (sie betrugen zuletzt ebenfalls um die 100 Milliarden Euro), außerhalb des regulären Budgets angesiedelt ist. Zu seiner rechtlichen Absicherung soll das militärische Sondervermögen sogar im Grundgesetz verankert werden. Wie dieser Kredit getilgt wird, steht noch nicht fest. Bemerkenswert ist, dass gemäß dem Europäischen System Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen seit 2014 Waffenkäufe als Investitionen abgerechnet werden. So wird vielleicht auch die Überschrift des Bundesfinanzplans verständlich: „Solide, vorausschauende Finanzen – für Stabilität und Handlungsfähigkeit“. Was für ein Witz! Der nach langer Abstinenz erfolgte Anstieg der Investition des Bundes auf zuletzt 55 Milliarden geht also auch – obgleich nur zu einem sehr geringen Teil – auf das Wachstum der Rüstungsausgaben von 40 auf 50 Milliarden in den vergangenen acht Jahren zurück.
Die für 2022 geplante Nettokreditaufnahme des Bundes, ursprünglich 99 Milliarden, wird gemäß dem jetzt vom Bundeskabinett beschlossenen Ergänzungshaushalt um knapp 40 Milliarden aufgestockt. Diese Summe ergibt sich aus den erwarteten Mindereinnahmen in Höhe von 12,9 und Mehrausgaben in Höhe von 26,3 Milliarden Euro. In letzteren sind neben einer Reservesumme auch die als Inflationsausgleich geplanten Maßnahmen für die Bevölkerung, die Hilfen für Unternehmen, Mittel zur Unterstützung von Ukraine-Flüchtlingen und „Mittel zur Ertüchtigung von Partnerstaaten“ – Gepard ich hör’ dich rasseln – enthalten.
Unter Berücksichtigung des Ergänzungshaushalts legte die Bundesregierung pflichtgemäß Ende April auch der Europäischen Kommission und dem Rat der Wirtschafts- und Finanzministerinnen und -minister (ECOFIN-Rat) ihr Stabilitätsprogramm 2022 vor. Darin ging sie noch von einem Anstieg des Bruttoinlandsprodukts um 3,6 Prozent aus. Nur Stunden später wurde dieser Wert auf 2,2 Prozent verringert, was im bereits veröffentlichten Stabilitätsprogramm nicht mehr berücksichtigt werden konnte. Fast alle Wirtschaftsforschungsinstitute haben mögliche Risikoszenarien für den Fall des Stopps der Lieferung von russischen Energieträgern, des weiteren Wegbrechens von Lieferketten und Absatzmärkten und einer anhaltenden Inflation berechnet. Danach könnte das BIP noch weit weniger wachsen oder sogar sinken. Das würde die Finanzplanungen von Bund, Ländern und Gemeinden sowie Sozialversicherungen völlig über den Haufen werfen und die Vorstellung, das Defizit in absehbarer Zeit wieder auf den gesetzlichen und durch europäische Verträge vorgeschriebenen Stand (Defizit 3 und Schulden 60 Prozent im Vergleich zum BIP) reduzieren zu können, ad absurdum führen.
Die Finanzierungslücke könnte mittels Steuererhöhungen, durch Einsparungen an anderer Stelle oder durch öffentliche Anleihen geschlossen werden. Steuererhöhungen oder Vermögensabgaben sind mit der FDP als Koalitionär kaum machbar, Ausgabensenkungen aber immer. Arbeit und Soziales muss eine Minderung um 2,9 Prozent hinnehmen, Digitales und Verkehr – 12,9, Bildung und Forschung – 2,5, Inneres und Heimat – 19, Familie, Senioren, Frauen und Jugend – 4,7, Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung – 12,6, Ernährung und Landwirtschaft – 7,4, Bundeskanzler und Kanzleramt – 20,5, Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz – 17,5, Justiz – 3 Prozent. Wie all das mit dem Slogan „in Wachstum investieren – für eine klimaneutrale, digitale Volkswirtschaft“ zusammengeht, bleibt das Geheimnis der Ampel-Regierung. Die bereits erwähnten Entlastungspakete für die Bevölkerung beziffern sich auf insgesamt 30 Milliarden Euro; ob damit die Kürzungen an anderer Stelle – Länder und Kommunen sind in der obigen Rechnung natürlich nicht berücksichtigt – ausgeglichen werden, darf bezweifelt werden.
So muss die Koalition auf das Mantra vom Abbau der Staatsverschuldung und einer „schwarzen Null“ vorerst verzichten. Abgesehen von den theoretischen Schwächen dieser Konzeption wurde die grundgesetzliche Schuldenbremse schon in den vergangenen Jahren umgangen, indem Sondervermögen gebildet wurden und öffentliche Aufgaben an öffentliche Unternehmen und Institutionen ausgelagert wurden, für die solche Beschränkungen der Kreditfinanzierung nicht bestehen und deren Schulden nicht mitgerechnet wurden. Man hat sich kräftig in die Tasche gelogen. Nunmehr wird diese Praxis weiter pervertiert und der steigenden Neuverschuldung von 140 Milliarden Euro noch das Sondervermögen von 100 Milliarden hinzugefügt. Aber wer weiß, vielleicht hat man seinen Keynes ja doch gelesen und hofft nicht nur darauf, an hervorragender Stelle bei Expansion und Stärkung der NATO mitwirken zu können, sondern auch auf rüstungsinduzierte Wachstums- und Beschäftigungseffekte. Besonders groß wird die Wirkung nicht sein. Der Bundesverband der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie zählt 100 Unternehmen zu seinen Mitgliedern. Sie tragen direkt und indirekt mit 28,4 Milliarden Euro zur Bruttowertschöpfung in Deutschland bei und sichern direkt und indirekt 410.000 Arbeitsplätze – 1 Prozent der Erwerbstätigen. Der Nachfrage- und Wachstumseffekt steigender Rüstungsausgaben wird von den negativen Folgen der mit Aufrüstung und Krieg verbunden Politik wohl weit übertroffen. Die Rüstungsindustrie, deren Anteilseigner und die Standorte dieser Industrie wird das nicht kümmern, sie gewinnen auf jeden Fall. Und manche Politikerinnen und Politiker, die an vorderster Stelle in der Weltpolitik mitmischen wollen, wähnen sich jetzt vielleicht sogar auf Augenhöhe mit ihrem US-amerikanischen Gegenüber.
Schlagwörter: Aufrüstung, Defizit Spending, Jürgen Leibiger, Rüstungskeynesianismus, Sondervermögen, Staatshaushalt