25. Jahrgang | Nummer 9 | 25. April 2022

Zeitgemäßer Defätismus

von Erhard Crome

Wie zuverlässig sind militärischen Expertenmeinungen?

Der frühere US-General Frederick Ben Hodges, in seiner letzten Verwendung Oberkommandierender der US-Streitkräfte Europa, meinte Mitte März 2022, Wladimir Putin werde wegen Personalmangels und Munitionsmangels in höchstens zehn Tagen den Krieg ergebnislos abbrechen müssen. Der Termin ist längst verstrichen und die russischen Streitkräfte haben gerade eine neue Offensive gestartet.

Carlo Masala, seines Zeichens fernseh-umtriebiger Professor an der Universität der Bundeswehr München, bewertete den Teilrückzug der Russen von Kiew Ende März als „Eingeständnis einer militärischen Niederlage“.

Im Gegensatz dazu erklärte nahezu zeitgleich der frühere CIA-Experte und Mitarbeiter des „Büros für Terrorismusbekämpfung“ des US-Außenministeriums, Larry C. Johnson, Russland habe den Krieg bereits gewonnen: „Die ukrainische Armee ist besiegt. Was bleibt, sind Aufräumarbeiten.“ Dazu zählte er, dass innerhalb der ersten 24 Stunden der russischen Militäroperation „alle ukrainischen Bodenradar-Abfangkapazitäten ausgelöscht“ worden seien und Russland „de facto eine Flugverbotszone über der Ukraine eingerichtet“ habe. Die Ukraine verfüge nur noch über schultergestützte Boden-Luft-Raketen, die von der NATO geliefert wurden. Auch wären die ukrainischen Streitkräfte nach dem Vorstoß Russlands auf Kiew nicht mehr zu bedeutenden militärischen Operationen in der Lage. Bei den russischen Militärschlägen mit modernen Präzisionswaffen gegen Schytomyr und Jaworiw in der Westukraine Mitte März seien wichtige Zentren des Nachschubs von Waffen und der Ausbildung von Ukrainern durch NATO-Personal zerstört worden. Die Zurückhaltung westlicher Medien bei der Berichterstattung über diese Katastrophe mit über 200 Getöteten, darunter Militärs aus den USA und Großbritannien, erkläre sich daraus, so Johnson, dass man diesen Rückschlag nicht zugeben wollte. Zugleich sei es eine klare Botschaft Russlands gewesen, dass man „die NATO-Truppen in der Ukraine […] als Kämpfer betrachtet und behandelt“.

Jacques Baud, Oberst der Schweizer Armee, hat für den Schweizerischen Strategischen Nachrichtendienst, die UNO – darunter in unterschiedlichen Friedensmissionen – sowie für die NATO gearbeitet. Er machte insbesondere auf vier Aspekte des bisherigen Kriegsverlaufes aufmerksam:

  • Zunächst würden die Russen einen „ganz anderen Krieg als die USA“ führen. „Die USA bombardieren zunächst mit der Luftwaffe und legen alles in Schutt und Asche, so dass die Bodentruppen nicht mehr groß kämpfen müssen.“ Die Russen dagegen hätten – das war der Stand der Dinge bis Ostern – die Luftwaffe kaum eingesetzt, um die Verluste unter der Bevölkerung so gering wie möglich zu halten. Auch Baud geht davon aus, dass Russland seine Ziele in der Ukraine fast erreicht und es nicht die Absicht habe, die ganze Ukraine in Besitz zu nehmen. Ziel sei es, die Bedrohung für die Donbass-Republiken zu neutralisieren.
  • Bauds zweiter Punkt: Der Großteil der ukrainischen Streitkräfte wurde in der Gegend von Kramatorsk zusammengezogen – auf Befehl des ukrainischen Präsidenten Selenski, der im Frühjahr 2021 die Eroberung der abtrünnigen Republiken angeordnet hatte. Dort sind die ukrainischen Einheiten jetzt eingekesselt und die Offensive der russischen Truppen nach Ostern zielt darauf, diese Hauptkräfte zu zerschlagen.
  • Der dritte Punkt ist der, dass in den Bodenkämpfen innerhalb der Städte weder die russische noch die ukrainische Armee beteiligt sind, sondern Milizen. In Mariupol auf ukrainischer Seite das berüchtigte, oft als „faschistisch“ bezeichnete Asow-Regiment und andere rechtsextreme Teile der Nationalgarde, auf russischer Seite Freiwilligenverbände der Republiken Donezk und Lugansk sowie der tschetschenischen Nationalgarde.
  • Der vierte Punkt schließt hier an. Baud bezieht sich auf seine Erfahrungen in den Friedensmissionen der UNO. Ein wichtiger Schutz der Zivilbevölkerung bestehe darin, den völkerrechtlich gebotenen Unterschied zwischen den kriegsführenden Truppen, den „Kombattanten“, und der Zivilbevölkerung deutlich sichtbar zu machen. Nur dann sind Zivilpersonen geschützt. Wenn sie aus dem Hinterhalt auf die einrückenden Truppen schießen, sind sie keine Zivilpersonen mehr, sondern Kämpfer, allerdings nicht als Kombattanten im Sinne des Kriegsvölkerrechts geschützt. Insofern sind diese als Kriegsopfer dann keine „zivilen“ Opfer entgegen dem Völkerrecht. „Bürger in Kämpfer zu verwandeln“, so Baud, „klingt romantisch, ist aber kriminell […]. Die Kriegsführung muss so weit wie möglich eine Aufgabe des Militärs bleiben. Wenn man Zivilisten Waffen gibt, erhöht man das Risiko, dass der Krieg von Emotionen geleitet wird und zu Gräueltaten führt.“ Es gebe in der Regel keine Führungsstrukturen, die Milizen verübten Massaker und die Waffen könnten in die falschen Hände geraten, so von kriminellen Banden.

Der ukrainische Präsident hatte bereits am Beginn des Krieges dafür Tür und Tor geöffnet. Es gibt bereits jetzt zwei Verantwortliche für die zu untersuchenden Kriegsverbrechen: Putin und Selenski.

Hier kommen wir auf das Phänomen des „Defätismus“. Der Unglaube an den Sieg des eigenen Landes im Krieg war im ersten wie im zweiten Weltkrieg in Deutschland, Frankreich, Großbritannien, den USA und in anderen Ländern Grund genug, vor ein Kriegsgericht gestellt, hingerichtet oder jahrelang ins Gefängnis, respektive in eine Irrenanstalt gesteckt zu werden. Die Urteile der deutschen Kriegsjustiz bis 1945 gegen Deserteure, Kriegsdienstverweigerer und „Wehrkraftzersetzer“ wurden erst 2002 durch den Deutschen Bundestag aufgehoben, die gegen „Kriegsverräter“ gar erst 2009. Vor allem die Linkspartei hatte für diese Aufhebung gestritten, gegen den Widerstand vor allem von CDU und SPD. Als „Kriegsverrat“ galt nicht nur eine aktive Tat, wie bei der Desertion, sondern auch eine abfällige Bemerkung über die Kriegsführung der „eigenen“ Seite, die ein rasches Todesurteil zur Folge haben konnte.

Auch in der derzeitigen Ukraine ist der feste Glaube an den Sieg, zumindest an den Sinn des Krieges, staatlich verordnet. Ob wirklich das ganze Volk davon tief durchdrungen ist, wie uns die deutschen „Qualitätsmedien“ Tag für Tag Glauben machen wollen, darf bezweifelt werden. Der Nachrichtenkanal Euronews brachte am 18. April 2022 einen Bericht aus der Karpato-Ukraine, wo die nicht kleine ungarische Minderheit wohnt. Die meisten Familien haben die von Viktor Orbán eingeräumte Möglichkeit genutzt und einen ungarischen Pass erworben, womit sie als Ungarn EU-Bürger sind. Gleich nach Beginn des russischen Krieges sind nahezu alle ungarischen Männer nach Ungarn geflüchtet, weil sie nicht im Donbass für die Ukraine sterben wollen. Sie wurden von den ukrainischen Grenzorganen nicht am Verlassen des Landes gehindert. Nach strikt ausgelegtem Völkerrecht – das hat der Sender nicht berichtet – mussten sie das nicht, weil Doppelstaatler sich in dem einen Land nicht auf die Staatsbürgerschaft des anderen berufen können, sondern jeweils als Inländer behandelt werden. Aber wahrscheinlich hatte am Kriegsbeginn niemand Zeit, ernsthaft zu prüfen, wer von denen zugleich ukrainischer Staatsbürger war.

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In Ahlbeck steht ein Gedenkstein. Dort wird gedacht, mit Datum des 5. Mai 1945, an Kurt Bütow, Rudolf Bundschu, Richard Griese, Otto Schnack und Richard Schlifter: „Durch Übergabe an die Rote Armee bewahrten sie Seebad Ahlbeck vor der Zerstörung.“

Kurz nach Beginn des russischen Krieges in der Ukraine hatte Präsident Selenski den israelischen Ministerpräsidenten Bennett um Vermittlung gebeten. Der war dann zuerst beim russischen Präsidenten Putin und dann bei Selenski. Wie schließlich an die Medien durchgesickert wurde, hatte Bennett Selenski empfohlen zu kapitulieren. Hätte der das getan, würden tausende ukrainische und russische Soldaten noch leben, ebenso zehntausende ukrainische Zivilpersonen. Es hätten nicht fünf Millionen Menschen fliehen müssen und die Städte würden noch stehen, ohne Zerstörungen.

Als 1968 die sowjetischen Truppen in die Tschechoslowakei einmarschierten, hatte der dort verantwortliche Verteidigungsminister befohlen, dass die tschechoslowakischen Truppen in den Kasernen bleiben. Niemand wurde erschossen, keine Stadt in Kämpfen zerstört. Als zwanzig Jahre später der politische Umbruch erfolgte, konnten sich alle Lebenden daran beteiligen.

Im August 2021 flüchtete der afghanische Präsident Aschraf Ghani aus Kabul und alle höhnten ob seiner Feigheit im Angesicht der Taliban. Aber vielleicht war er der größte afghanische Patriot, weil er ein neuerliches Blutbad verhinderte. Auch dort können alle, die jetzt nicht erschossen wurden, in zehn oder 15 Jahren Akteure eines politischen Neuanfangs werden.

Im Grunde ist Defätismus für beide Seiten, die russische wie die ukrainische, der einzige vernünftige Ausweg, der den Umständen des 21. Jahrhunderts gemäß ist.