25. Jahrgang | Nummer 8 | 11. April 2022

John Hughes aus Wales und der Donbass

von Detlef Jena

Die Vorgeschichte des Donbass ist am Krieg und Machtstreben der europäischen Großmächte orientiert. Der von 1853 bis 1856 währende Krimkrieg, der zunächst als 9. Russisch-Türkischer Krieg begann, war ein militärischer Konflikt zwischen Russland einerseits und dem Osmanischen Reich sowie dessen Koalitionären Frankreich, Großbritannien und ab 1855 auch noch Sardinien-Piemont auf der Gegenseite. Die westeuropäischen Mächte griffen in den russisch-türkischen Krieg ein, um eine Gebietserweiterung Russlands am Schwarzen Meer zu Lasten ihrer eigenen machtpolitischen Interessen und auf Kosten des wankenden Osmanischen Reichs zu verhindern. Russland schwächten in diesem Krieg schwere Niederlagen und Kaiser Nikolaus I. starb 1855 mutmaßlich aus Gram über den misslungenen neuerlichen Coup gegen das Osmanische Reich. Er hatte doch nur die christlichen Glaubensbrüder am Bosporus reinen Herzens schützen wollen! Aber die kaiserliche Großmama Katharina aus Zerbst hatte ja schon geweissagt, dass nur jene Herrscher wirklich glücklich zu preisen sind, die sterben, bevor sie den Scherbenhaufen ihrer Politik erkennen und begreifen.

Im November 1855 besuchte der neue russische Zar Alexander II. die Krim. Der reformwillige Imperator verstand die Hoffnungslosigkeit der russischen Position, zumal auch noch Österreich mit sofortigem Kriegseintritt drohte. Russland war international vollständig isoliert und damit die Zeit für einen Friedensschluss reif. Am 30. März 1856 schloss Russland mit seinen Kriegsgegnern – sowie den nichtkriegführenden Staaten Preußen und Österreich – den Frieden von Paris. Darin wurde die Integrität und Unabhängigkeit des Osmanischen Reiches erklärt. Russland musste unter anderem den Südosten Bessarabiens abtreten. Dabei fiel das 1812 eroberte, strategisch wichtige Donaudelta an das Osmanische Reich. Der nördliche Teil mit der Festungsstadt Ismail ging an das Fürstentum Moldau. Doch gemach, auch in den nachfolgenden Jahrzehnten blieb die Gegend eine weiterhin heiß umkämpfte Arena.

Die Niederlage führte zu der Erkenntnis des Zaren, dass Russland den westlichen Mächten ökonomisch und technologisch hoffnungslos unterlegen war. Die russischen Streitkräfte mussten unbedingt auf das Niveau der westlichen Industrienationen angehoben werden, damit der Status einer europäischen Großmacht gewahrt blieb. Es bedurfte einer grundlegenden Reformierung des Reichs, zu der selbst in der Romanow-Dynastie einflussreiche Politiker bereit waren, allerdings mit einer entscheidenden Einschränkung: Autokratie, Orthodoxie und patriotischer Volksglaube durfte nicht angetastet werden! Die Aufhebung der Leibeigenschaft der Bauern, Kooperation mit dem Finanzkapital des Westens, großzügige Kredite zum Aufbau der Schwerindustrie und vor allem der Eisenbahn als wesentlichstem Mittel der Infrastruktur, das waren ebenso wichtige Veränderungen in der russischen Wirtschaft, wie die Einladung westlicher Fachkräfte zur Förderung von Industrie und Wirtschaft. Alexander II. erinnerte sich daran, dass Katharina II. (die Große) bei der Kolonisierung der Ukraine („Neurussland“) im 18. Jahrhundert freigiebig Spezialisten vieler Völker in das nördliche Schwarzmeergebiet geholt hatte, getreu dem urväterlichen Grundsatz, Russland liefert den Rohstoff, der Westen bietet die Technologie.

In der deutschen Osteuropa-Historiographie besitzt die Ansiedlung westlicher Unternehmer in der Ukraine im 19. Jahrhundert ihren festen und gut erforschten Platz. So ist im Jahre 2006 eine umfassende Studie über „Unternehmer und Stadt in der Ukraine – 1860-1914“ erschienen. Exakt, detailliert und wissenschaftlich objektiv hat das Werk beschrieben, wie intensiv das internationale Finanzkapital und das europäische industrielle Unternehmertum die Ukraine im 19. Jahrhundert durch Investitionen und modernes Management maßgeblich gefördert, zur kulturellen und urbanen Infrastruktur beigetragen und damit die Wirtschaftskraft ganz Russlands gestärkt hat. Als würdiges Beispiel hat die Studie ganz ohne jegliche nationale Eitelkeit den Waliser Ingenieur und Industriellen John James Hughes porträtiert, der, am 25. Juni 1815 in Merthyr Tydfil geboren, bahnbrechende Leistungen in der britischen Stahlindustrie erbracht hat. Er schuf bemerkenswert sichere Panzerplatten für die Rüstung und 1864 konstruierte er sogar eine Geschützlafette für schwere Kanonen, die durchgehend bei der Royal Navy und auf Kriegsschiffen anderer europäischer Staaten eingesetzt wurden. So einen Rüstungsexperten wollte man in Russland auch gerne haben. Hughes folgte 1870 bereitwillig dem Ruf des russischen Zaren Alexander II., der ebenso kampfstarke Panzerschiffe wie die gekrönten westlichen Kollegen an den Gestaden des Atlantik besitzen wollte. Hughes störte sich keinesfalls daran, dass das Zarenreich gerade militärisch und mit Opfern in der Zivilbevölkerung in den Kaukasus und nach Mittelasien expandierte. Als Brite war man es gewöhnt, jeden Tag irgendwo auf der Welt Krieg zu führen. Der Waliser stampfte mit Elan, Tatkraft und sogar russischen wie ukrainischen Arbeitskräften im Südosten der Ukraine eine Stadt und ein Industriegebiet aus dem Boden, die zum Inbegriff der Schwerindustrie des großen Russischen Reichs wurden und zu jeder Zeit die Begehrlichkeit imperialer Konkurrenten und Mitbewerber in der westlichen Hemisphäre geweckt haben: Donezk und den Donbass.

Es ist interessant, dass die Schweizer Neue Zürcher Zeitung im Jahre 2014 und im Angesicht der Zuspitzung der Ukraine-Krise, nachdem Russlands Präsident Wladimir Putin den amerikanischen Präsidenten George W. Bush bereits 2008 persönlich informiert hatte, in die Ukraine einzumarschieren, falls diese in die NATO aufgenommen werden sollte, so damalige Presseberichte, ein aktuelles Porträt über Donezk und den Donbass auf die Erinnerung an John Hughes aufgebaut hat: „Der Zar suchte jemanden, der ihm auf analoge Weise eine Marinebasis befestigen könnte und die dazu notwendigen Stahlplatten gleich selber herstellen würde. So zog Hughes mit acht Schiffen voller Menschen und Material nach Russland, um in einem Gebiet am Rand des Schwarzen Meeres, das bekannt war für seine reichen Kohlevorkommen, einen Industriekomplex mit Hochöfen und Stahlwerken zu erstellen. Beim unbedeutenden Dorf Alexandrowka am Fluss Kalmius ließ er sich nieder…“ Sprachen aus dieser Erinnerung vielleicht ganz moderne Wünsche? Anto Tschechow hätte da sicher geschrieben: „Wenn man es nur wüsste!“

Hughes Lebensleistung in der Ukraine war gigantisch. Auf einem Areal von der anderthalbfachen Größe der Schweiz wuchs ein für Russland und Europa einmaliger industrieller Komplex. Im Zentrum: Aus Alexandrowka entstand die Stadt Hughesowka (Jusowka), die der spätere angeblich weiseste Führer aller Werktätigen wie der Menschheit aus dem kaukasischen Gori bescheiden in Stalino umbenennen ließ, ehe 1961 der Generalsekretär des ZK der KPdSU Nikita Chruschtschow den für eine Politik der „Friedlichen Koexistenz“ mit dem Westen günstigeren neutralen Namen Donezk wählte.

Die Würdigung von Hughes war in Donezk und in Russland groß. Nach dem Krimkrieg wurde man wieder wer! Und der in der Regel abstrakte slawophile Mythos stand auch sofort wortreich Pate: Die russische Seele sehnt sich nicht nach dem kalten Reißbrettmanagement atlantischer Großkonzerne. Diesen kulinarischen Grund für die russische Verehrung beschrieb sogar die kommerziell sachliche Petersburger Börsenzeitung bereits im Juni 1889, als Hughes in der damaligen russischen Hauptstadt starb: „Er war ein Engländer der Herkunft nach, er war ein Russe in der Seele: und wir können getrost sagen, dass er nach der industriellen Stärke Russlands mit derselben Kraft strebte, wie ein echter Russe.“ Den mit Staunen angehimmelten Hughes, der Russland und der Ukraine unschätzbare Dienste leistete, beschrieb man als einen „hochgewachsenen Mann, der einen Schmiedehammer schwang, dass diejenigen, die ihm zusahen, nicht wussten, ob dieser seltsame Brite ein Fabrikbesitzer oder ein Arbeiter war.“

Den Ausschlag gab nicht, dass Hughes wie viele der anderen ausländischen Investoren, die mithalfen Russlands Modernisierung in den 70er und 80er Jahren des 19. Jahrhunderts voranzutreiben, im Donbass seinen eigenen westlichen Lebensstil auslebte. Er beeindruckte Menschen am Don, am Schwarzen Meer und sogar im ewigen Kiew vor allem durch den Augenschein, dass er nicht nach Russland gekommen war, einem Mutterunternehmen in Wales, England, Frankreich oder Deutschland durch reiche Rendite die Taschen zu füllen – und dabei den Slawen ihre Seele zu rauben. Zumindest in der links des Dnepr gelegenen orthodox orientierten Ukraine dachte man so. Auf dem rechten Ufer regierte da schon eher nüchterner bürgerlicher Realitätssinn und natürlich der Katholizismus. Denn das ist die eigentliche Tragödie der Ukraine in der Geschichte: ihre Menschen leben zerrissen an der Nahtstelle gänzlich unterschiedlicher Kulturen sowie deren politischen Machtsystemen und das ließ sie immer wieder zu Opfern naher und ferner Großmächte werden. Die slawophilen Fantasien über einen walisischen Ilja Murometzblieben da ein unausweichliches Attribut.

Angesichts der aktuellen russischen Invasion in der Ukraine mutet es wie eine bittere und tragische Ironie der Geschichte an: 2001 errichtete man in Donezk ein Denkmal für John Hughes – 2001! Damals galt: Ein ukrainisches Denkmal für den von Russland angeworbenen britischen Ingenieur, zum Ruhme des Russischen Reichs in den Kriegen um die russische Vorherrschaft auf dem Schwarzen Meer und dem Balkan und zugleich ein Memorial im Ringen um ein historisch verankertes ukrainisches Nationalbewusstsein.