Warum „Putins“ Krieg? Weil vieles, ja alles dafür spricht, dass der völkerrechtswidrige Überfall Putinscher Truppen mit Panzern und Raketen auf das Nachbarland dem politischen Willen eines Mannes entspringt: „Aber im Fall der Ukraine ist es klar, dass es der Krieg eines einzelnen Individuums ist. Es gibt genau eine Person in dieser Welt, die diesen Krieg unbedingt wollte, und das ist Wladimir Putin“, glaubt der israelische Historiker Yuval Noah Harari, den man zu den einflussreichsten Intellektuellen der Gegenwart zählt.
Putin verkörpert auch propagandistisch diesen Krieg nach außen und innen; und dies schon seit geraumer Zeit. Die damalige Kanzlerin Angela Merkel – so wird kolportiert – soll bereits 2014 gegenüber dem damaligen US-amerikanischen Präsidenten Barack Obama behauptet haben, sie sei „verwirrt“ von Putin. So berichteten es damals wenigstens Insider der New York Times. „In einer anderen Welt“ befände sich Putin, von jeder Realität weit entfernt. Diese „andere Realität“ liegt möglicherweise in Putins Eintauchen in die Geschichte seines Landes begründet. 2020 schrieb er einen Geschichtsaufsatz; der trägt den Titel „75. Jahrestag des Großen Sieges: Gemeinsame Verantwortung vor Geschichte und Zukunft“ und war seinerzeit in deutscher Übersetzung auf der Internetseite der russischen Botschaft zu lesen. Doch dabei ließ es die Botschaft nicht bewenden. Sie schickte den Aufsatz per E-Mail an Dutzende deutscher Osteuropa-Historiker, begleitet von dem Hinweis, den Text, der auf „erhebliches Interesse“ stoßen werde, „künftig bei der Vorbereitung von historischen Beiträgen zu nutzen“.
Wäre Putin Hobbyhistoriker, könnte man den Essay zu den Texten des geschichtspolitischen Revisionismus zählen, der seit den späten 90er Jahren im Kernland der ehemaligen Sowjetunion um sich griff. Weil Putin aber Staatsoberhaupt eines Landes mit einer starken Armee ist, das darüber hinaus auch über Atomwaffen verfügt, ist der Text ernst zu nehmen. Er ist die ausführliche Fassung einer Doktrin, die das geostrategische Handeln Russlands seit Putins Machtantritt im Mai 2000 leitet. Eine ausführliche Darlegung dessen führte hier zu weit.
Obwohl Putins These, dass die Tragödie Polens im Zweiten Weltkrieg „voll und ganz auf dem Gewissen der damaligen polnischen Führung“ liege, zu weit geht, ist sie nicht völlig substanzlos. Aber sich darauf stützend eine ideologische Kampfansage an Polen zu formulieren, ist Geschichtsklitterung. Dazu passt, dass Putin die damalige Annexion des militärisch besetzten Baltikums zur friedlichen „Inkorporation“ verklärt. In diesem historischen Anachronismus liegt eine Gefahr für die östlichen Ränder Europas. Dort erinnert man sich noch zu gut an die sowjetische Besatzung, um sich nicht vor Putins Eifer zu fürchten. Die drei baltischen Staaten waren die ersten, die sich bereits 1990 von der UdSSR lossagten; anders als die meisten anderen Sowjetrepubliken, die erst durch die Auflösung der Sowjetunion im Jahre 1991 unabhängig wurden. Es gab Opfer unter der Bevölkerung. Die unterschiedliche Bewertung der Sowjetzeit durch Autochthone und Russischstämmige in diesen Staaten bleibt ein Problem. Damit wird klar, warum die heutigen NATO-Mitglieder Polen und die baltischen Staaten den Schutz der Allianz suchten. In der gleich näher beleuchteten Rede vom 21. Februar 2022 sagte Putin dazu Folgendes: „Die Regierungen einiger osteuropäischer Länder, die mit ihrer Russophobie hausieren gingen, brachten ihre Komplexe und Stereotypen über die russische Bedrohung in das Bündnis ein und bestanden auf dem Aufbau kollektiver Verteidigungsfähigkeiten, die in erster Linie gegen Russland eingesetzt werden sollten.“ Verteidigungsfähigkeiten – nicht Angriffsfähigkeiten! – gegen Russland. Genau darum geht es im Falle eines Falles.
Die eben erwähnte Rede vom 21. Februar richtete Putin auch an „unsere Mitbürger in der Ukraine“. Wen meinte er? Sein Vortrag begann mit einem – wen wundert’s – historischen Exkurs, der auf die Entstehung der Ukraine einging: „… die moderne Ukraine (wurde) vollständig von Russland geschaffen, genauer gesagt, vom bolschewistischen, kommunistischen Russland“; sie sei eine „Wladimir-Lenin-Ukraine“. Darüber hinaus betonte Putin, es sei auch wichtig, zu verstehen, „dass es in der Ukraine im Grunde nie eine stabile Tradition echter Staatlichkeit gegeben hat. Seit 1991 ist sie den Weg der mechanischen Kopie fremder Modelle gegangen, losgelöst von ihrer Geschichte und der ukrainischen Realität“. Losgelöst von ihrer Geschichte? Also hat sie doch eine – nämlich in Gestalt der Unabhängigkeitsbewegung seit dem 19. Jahrhundert und deren Unterdrückung im Russischen Reich, die kurzlebige ukrainische Unabhängigkeit in den 1920er Jahren, die sowjetische Repression gegen das ukrainische Volk im Stalinismus, vor allem in der Hungerkatastrophe Anfang der 1930er Jahre – Holodomor – oder die gezielten stalinistischen Säuberungen der ukrainischen Eliten.
Auch hier kann es nicht darum gehen, die Rede insgesamt zu referieren; ich verweise nur auf einige markante Stellen. So unterstellte Putin, dass „das Kommando- und Kontrollsystem der ukrainischen Truppen bereits in die NATO-Truppen integriert (wurde).
Das bedeutet, dass das Kommando über die ukrainischen Streitkräfte, auch über einzelne Einheiten und Untereinheiten, direkt vom NATO-Hauptquartier aus ausgeübt werden kann.“ Er behauptete auch, Man wisse, „dass es bereits Erklärungen gegeben hat, dass die Ukraine ihre eigenen Atomwaffen entwickeln wird, und das ist keine leere Angeberei. Die Ukraine verfügt über sowjetische Nukleartechnologie und die Mittel zum Einsatz solcher Waffen, darunter Flugzeuge und Totschka-U-Raketen, ebenfalls sowjetischer Bauart, mit einer Reichweite von mehr als 100 Kilometern.“ Ob das so stimmt? Zweifel sind mehr als angebracht …
Eine längere Passage widmete Putin der ideellen Einstimmung auf den Schritt, dem die ganze Rede diente – nämlich der „längst überfällige Entscheidung …, die Unabhängigkeit und Souveränität der Volksrepublik Donezk und der Volksrepublik Lugansk unverzüglich anzuerkennen“. Er sagte: „Im Gegenteil, sie (die Führungsspitze in Kiew – St.W.) versuchen erneut, einen Blitzkrieg im Donbass zu organisieren, wie sie es bereits 2014 und 2015 getan haben. […] Jetzt vergeht praktisch kein Tag mehr, an dem nicht Städte und Dörfer im Donbass beschossen werden. Eine große Gruppe von Truppen setzt ständig Angriffsdrohnen, schweres Gerät, Raketen, Artillerie und Mehrfachraketenwerfer ein. Die Tötung von Zivilisten, die Blockade, die Misshandlung von Menschen, einschließlich Kindern, Frauen und älteren Menschen, geht unvermindert weiter. […] als gäbe es diesen ganzen Horror, den Genozid, dem fast 4 Millionen Menschen ausgesetzt sind, nicht, und das nur, weil diese Menschen mit dem vom Westen unterstützten Putsch in der Ukraine im Jahr 2014 nicht einverstanden waren und sich der gesteigerten staatlichen Bewegung hin zu einem höhlenartigen und aggressiven Nationalismus und Neonazismus widersetzten. Und sie kämpfen für ihre elementaren Rechte: in ihrem eigenen Land zu leben, ihre eigene Sprache zu sprechen, ihre Kultur und Traditionen zu bewahren“.
Diese Redepassage löst einige Verwunderung aus – verfügt Putin auch über seherische Gaben? Das liegt nahe; er sagte, dass „eine große Gruppe von Truppen ständig Angriffsdrohnen, schweres Gerät, Raketen, Artillerie und Mehrfachraketenwerfer ein(setzt). Die Tötung von Zivilisten, die Blockade …“ – vielleicht setzt die Putinsche Armee (noch) keine Drohnen ein, aber dafür Panzer. Und tötet in kriegsverbrecherischer Manier Zivilisten. Oder: „Und sie kämpfen für ihre elementaren Rechte: in ihrem eigenen Land zu leben, ihre eigene Sprache zu sprechen, ihre Kultur und Traditionen zu bewahren“– der Kampf der Ukrainer für ihre elementaren Rechte nötigt der ganzen Welt Hochachtung ob der Tapferkeit ab und hat die Aggressionsarmee in erhebliche Schwierigkeiten gebracht; egal wie der Kampf letztlich ausgeht. Jedenfalls hat Putin es dazu gebracht, dass die Neue Zürcher Zeitung am 5. März titelte: „In Charkiw schiessen Russen auf Russen“.
(Abgeschlossen am 8. März 2022)
Schlagwörter: Krieg, Russland, Stephan Wohanka, Ukraine, Wladimir Putin