Der russische Präsident Wladimir Putin weilte am 6. Dezember zu einem nur fünf Stunden dauernden Besuch in Neu-Delhi, wo er intensive Gespräche mit dem indischen Premierminister Narendra Modi führte. Es war bereits das 21. jährliche Gipfeltreffen zwischen beiden Staaten, diesmal ergänzt durch die Zwei-plus-Zwei-Gespräche der Außen- und Verteidigungsminister. Eine aus 99 Paragraphen bestehende Gemeinsame Erklärung gibt Auskunft über den Stand und die Vorhaben in den umfangreichen bilateralen Beziehungen.
Bemerkenswert sind Zeitpunkt und Umstände des Besuchs: Er fand nur einen Tag vor dem wichtigen Video-Gipfel des Putins mit seinem US-amerikanischen Amtskollegen Joseph Biden statt, zudem lief die westliche Propaganda bezüglich einer vermeintlichen russischen Aggression gegenüber der Ukraine auf Hochtouren. Für Putin war es überhaupt erst die zweite Auslandsreise in den beiden letzten Jahren – nur im Juni gab es das Treffen mit Biden in Genf.
Die Moskauer Führung sieht bestätigt, dass die Versuche der USA und der NATO, Russland zu diskreditieren und zu isolieren, in großen Teilen der Welt keine Zustimmung finden. Das gilt im besonderen Maße auch für Indien, um das sich die USA in der letzten Zeit verstärkt bemühen. Premierminister Modi lag es fern, irgendeinen Makel auf die russische Politik zu werfen. Im Gegenteil, er stellte den Beziehungen seines Landes zu Russland ein hohes Zeugnis aus. Bei der Eröffnung des Treffens sagte er: „Beide Länder haben nicht nur ohne jegliches Zögern zusammengearbeitet, sie haben auch besondere Aufmerksamkeit den gegenseitigen Empfindlichkeiten gewidmet. Es ist wahrhaftig ein einzigartiges und verlässliches Modell einer zwischenstaatlichen Freundschaft.“ Seine weiteren Ausführungen belegen, dass dies nicht nur diplomatische Höflichkeiten sind. Er bezeichnete das Jahr 2021 als ein wichtiges in den indisch-russischen Beziehungen, da vor 50 Jahren zwischen der Sowjetunion und Indien der Vertrag über Frieden, Freundschaft und Zusammenarbeit abgeschlossen wurde. Dieser Vertrag gab der damaligen indischen Regierung diplomatische und militärische Rückendeckung bei den Aktionen, die letztendlich zum Ausscheren des früheren Ostpakistans aus dem pakistanischen Staatenverbund und zur Entstehung von Bangladesch führten. Trotz Drohungen der USA, die mit Teilen ihrer 7. Flotte in den Golf von Bengalen eingelaufen waren, sowie Chinas lief das damalige Geschehen im Osten des Subkontinents ohne größere internationale Spannungen ab.
Natürlich wird niemand die seinerzeitige Situation auf die heutige Lage in Südasien übertragen wollen. Die indische Regierung verdeutlicht mit der Würdigung der historischen Tatsachen jedoch, dass Russland eine starke, nicht wegzudenkende Komponente in ihrer außenpolitischen Strategie darstellt. Und sie sendet damit eine Botschaft nach Washington, die Versuche zu unterlassen, das Verhältnis Indiens zu Russland zu stören. Derzeit geht es dabei um die kürzlich angelaufene Lieferung der hochmodernen Raketen-Abwehrsysteme S-400 durch Russland, die die USA unter allen Umständen verhindern wollten. Ihre diplomatischen Bemühungen scheiterten, angedrohte Sanktionen sind jedoch noch gewärtig. Deutlich wird, dass Indien sich nicht in seine außen- und militärpolitischen Entscheidungen hineinreden lässt.
Ein zweites Signal will Indien nach China senden, mit dem es durch ungelöste Grenzfragen ernste Probleme gibt. Es soll demonstriert werden, dass trotz einer engen Zusammenarbeit Russlands mit China in Moskau Verständnis für die indischen Probleme vorhanden ist. Wie weit dieses Verständnis reicht und ob sich Peking davon beeinträchtigen lässt, sei dahingestellt. Auf alle Fälle gibt Moskau zu verstehen, dass ein Zusammengehen Russlands, Chinas und Indiens bei der Lösung internationaler Probleme sehr wichtig ist.
In den Gesprächen zwischen den Außen- und Verteidigungsministern beider Staaten wurden konkrete Sachfragen für den Ausbau der Beziehungen erörtert und nahezu dreißig Abkommen unterzeichnet. Darunter ein Zehnjahresvertrag über die militärisch-technologische Zusammenarbeit, der einen Transfer von Technologie beinhaltet. Schon bald soll in Indien in großer Stückzahl die Kalaschnikow-Waffe AK 203 produziert werden. Weitaus größeren Umfang werden Lieferungen und die Teilproduktion kleinerer Raketen sowie von Kampfflugzeugen und Hubschraubern haben. Die indische Presse hebt hervor, dass im Gegensatz zu Russland die USA-Politik – obwohl sie Indien als „major defence partner“ eingestuft hat – einen Transfer militärischer Technologie bisher nicht freigegeben hat.
Russland, China und Indien eint die Sorge über die Entwicklung in Afghanistan. Doch gibt es dazu kein gemeinsames Vorgehen. Das zeigte sich beim „Sicherheitsdialog zu Afghanistan“ im November in Neu-Delhi. Während die Sicherheitsberater Russlands, aller mittelasiatischen Staaten und Irans teilnahmen, brüskierte Pakistan die Zusammenkunft, China schloss sich dem an. Deutlich wird, dass Pakistan Indien von Regelungen betreffs Afghanistans ausschließen will. Selbst humanitäre Hilfe, wie die Lieferung von 50.000 Tonnen Weizen auf dem Landweg von Indien nach Afghanistan, wird seit Wochen verhindert. Pakistan will sich als Sachverwalter des afghanischen Regimes profilieren, um so auch seine gegen Indien gerichteten Interessen verfolgen zu können. Russland und Indien hingegen betonen, dass hinsichtlich der afghanischen Problematik die Verhinderung eines neuen Terrorismus und dessen grenzüberschreitender Aktivitäten Priorität haben muss. In der Gemeinsamen Erklärung wurde dazu ein abgestimmtes Vorgehen vereinbart.
Bei den Beratungen wurde indes deutlich, dass es zu den Fragen der Sicherheit im Indopazifik keine gemeinsame Haltung gibt. Außenminister Sergej Lawrow drückte unverhüllt sein Unverständnis für die Teilnahme Indiens an der „Indo-Pazifik-Strategie der USA mit ihrer geschlossenen Block-ähnlichen Struktur“ aus, womit er sich auf die Quad-Gruppierung bezog. Hingegen einigte man sich, den Seehandelsweg zwischen Wladiwostok und Chennai (Madras) zügig auszubauen. Dazu gehören auch beträchtliche indische Investitionen im Gebiet von Wladiwostok
Ein Blick auf die außenpolitische Strategie Indiens verdeutlicht, dass das Land als aufstrebende Macht gute Beziehungen sowohl zu Russland als auch zu den USA benötigt. Sie bieten das optimale Umfeld für seine Entwicklung. Doch während Russland das respektiert, können sich die USA damit nicht abfinden. Das macht ein Bericht des in Washington erscheinenden einflussreichen außenpolitischen Magazins Foreign Policy deutlich. Da heißt es, „Modis delikates Balancieren“, sein „heikler Tanz mit zwei rivalisierenden Mächten“ werfe Sorgen und bohrende Fragen auf, inwieweit man Neu-Delhi bei der Verwirklichung einer strategischen Partnerschaft trauen kann.
Eine Antwort auf diese Kalte-Kriegs-Rhetorik lieferten die indischen Medien, indem sie das indisch-russische Verhältnis nach dem Besuch Putins eine „robuste Freundschaft“ tauften. Und selbst kritische Beobachter wie der ehemalige Geheimdienstkoordinator S. D. Pradhan befürworten eine stärkere Rolle Russlands als Großmacht. Das sei im Interesse Indiens, „da es die Hegemonie einer Macht verhindert und den Multilateralismus stärkt, was Indiens Aufstieg entgegenkommt“. Auch sei Russlands stärkeres Engagement im Indopazifik höchst wünschenswert. Abschließend stellte der Sicherheitsexperte in der Times of India vom 24. Dezember fest: „Während des Modi-Putin-Gipfeltreffens unternahm Indien hinsichtlich seiner Interessen in der sich herausbildenden geopolitischen Lage die richtigen Schritte …“
Das sind interessante, teils neue Töne. Sie zeugen vom gewachsenen Selbstbewusstsein Indiens und dürften vornehmlich an Washington, aber auch an Peking gerichtet sein. Obwohl jeder Vergleich hinkt, erinnern sie in gewisser Weise an die Rückversicherung, die Neu-Delhi vor 50 Jahren aus Moskau erhielt.
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