24. Jahrgang | Nummer 25 | 6. Dezember 2021

Koalitionäre Konturen

von Erhard Crome

Mehr Fortschritt wagen“, wurde der Koalitionsvertrag der drei zum Regieren fest entschlossenen Parteien SPD, Grüne und FDP überschrieben. Für die Außenpolitik gilt das augenscheinlich nicht. Er bestätigt die Faustregel, dass je größer der Staat, desto geringer das öffentliche Interesse an der Außenpolitik. Es sei denn, es scheint „Krieg in Sicht“. Nicht zuletzt durch westliche Politik wurden die Kriegsgefahren im 21. Jahrhundert größer. Aber als gefährlich wird das in Deutschland nicht gesehen. Das zeigt sich bereits im Personal. War das für die BRD in Zeiten der Herbeiführung der Entspannung Willy Brandt, bei der Übernahme der DDR Hans-Dietrich Genscher, nach dem Kalten Krieg immerhin noch ein Frank-Walter Steinmeier, so ist jetzt Heiko Maas der Mann zum Abgewöhnen. Ob das in der Ampel-Regierung mit Annalena Baerbock noch unterboten werden kann, wird sich bald erweisen.

Im Koalitionsvertrag kommt das ebenfalls zum Ausdruck, die Außenpolitik rangiert weit hinten, ab Seite 130 bis Seite 157, von insgesamt 177 Seiten, nach „digitalem Aufbruch“, Klimaschutz, Arbeitswelt, Kindern und Familie, Bildung sowie Demokratie, unter dem Titel: „Deutschlands Verantwortung für Europa und die Welt“. Ironisierende Betrachter aus Russland haben festgestellt, dass Russland gemessen an der Textlänge im Kapitel „Bilaterale und regionale Beziehungen“ mit 13,43 Prozent den meisten Raum einnimmt, gefolgt von China mit 11,48 Prozent, der „transatlantischen Partnerschaft“ mit 7,4 Prozent, Belarus mit 4 Prozent und der Ukraine mit 2,23 Prozent. Das wird inhaltlich aber nicht als Ausdruck von Freundlichkeit gegenüber Russland gewertet. In China wird derweil diskutiert, ob sich das Land in seiner Entwicklung überhaupt noch davon beeinflussen lassen sollte, was im Westen darüber gedacht wird. Im Kern stehe, so Professor Shen Yi von der Fudan Universität (Shanghai), dass die westlichen Mächte den Aufstieg Chinas nicht hinnehmen wollen, solange es nicht westlichen Modellen folgt.

So ist im Koalitionspapier wieder die Rede von „verschärftem globalen Wettbewerb“ und „internationalem Systemwettstreit“, in dem Deutschland und die EU „ihre ökonomische Stärke“ neu begründen müssten und ihre „Werte“ entschlossen verteidigen. Es gehe um „Systemwettbewerb mit autoritär regierten Staaten“ und „eine strategische Solidarität mit unseren demokratischen Partnern“. Weshalb sich die Welt in einem „Systemwettstreit“ befinde, während doch die Sowjetunion und ihre erklärt alternativen Gesellschaftsvorstellungen gegenüber dem realexistierenden Kapitalismus der Vergangenheit angehören, und gegen wen denn diese „Werte“ verteidigt werden müssten, weil er sie angreift, bleibt auch dieses Papier schuldig. Insofern spiegeln sich die Fehleinschätzungen zur Weltlage und die falschen konzeptionellen Ansätze der verschiedenen „Vordenker“, etwa von Alexander Graf Lambsdorff (Das Blättchen, 11/2021), der nun zu seinem Leidwesen nicht Außenminister wird, oder des zentralen Staatsinstituts SWP (Das Blättchen, 24/2021), auch in diesem Papier wider. Der Unterschied ist nur, was dort Gegenstand von Experten-Diskussionen sein sollte, wird hier zur Regierungspolitik. Eine Außenpolitik, die intellektuell und strategisch von unrichtigen Voraussetzungen ausgeht, kann den Interessen des Landes und seiner Bewohner nicht gerecht werden.

Schauen wir den Koalitionsvertrag genauer an, fallen zunächst die Heucheleien und euphemistischen Halbwahrheiten ins Auge. So wird Deutschland als „verlässlicher Partner in Systemen kollektiver Sicherheit“ deklariert. Wären die UNO oder die OSZE gemeint, wäre das richtig. Die Formel findet sich jedoch im Abschnitt „Verteidigung und Bundeswehr“, das heißt hier geht es überhaupt um Bundeswehr und den „Einsatz militärischer Gewalt“. Kontext ist die NATO. Und die ist tatsächlich, auch wenn die Herrschenden in diesem Deutschland das seit 25 Jahren fälschlicher Weise behaupten, keine Einrichtung der „kollektiven Sicherheit“, sondern eine Organisation zu gemeinsamem Militäreinsatz, verheuchelt: „gemeinsamer Verteidigung“. Ein System kollektiver Sicherheit schließt den tatsächlichen oder angenommenen Gegner stets mit ein, während sich ein System kollektiver Verteidigung gegen einen Dritten richtet. Das konnten wir bei den anti-russischen Positionierungen der NATO vor wenigen Tagen in Riga gerade wieder besichtigen. In diesem Sinne schreibt der Koalitionsvertrag die Lüge von der NATO als Organisation der „kollektiven Sicherheit“ fort.

Ähnlich beim Thema Atomwaffen. So heißt es: „Unser Ziel bleibt eine atomwaffenfreie Welt (Global Zero) und damit einhergehend ein Deutschland frei von Atomwaffen“. Der Abzug der US-amerikanischen Atomwaffen von deutschem Boden war bereits eine Forderung der FDP unter Guido Westerwelle und Gegenstand des Koalitionsvertrages von CDU/CSU und FDP von 2009. Die Forderung wurde später von Angela Merkel suspendiert. Jetzt erfolgt die Aufhebung im Koalitionsvertrag gleich mit. Die NATO wird erwartungsgemäß zur „unverzichtbare[n] Grundlage unserer Sicherheit“ erklärt, das Bekenntnis „zur Stärkung des transatlantischen Bündnisses“ erneuert. Das soll auch die weitere Erhöhung der Rüstungsausgaben, wie sie die Vorgängerregierungen zugesagt hatten, mit einschließen. Demgemäß heißt es zum Thema Atomwaffen: „Solange Kernwaffen im Strategischen Konzept der NATO eine Rolle spielen, hat Deutschland ein Interesse daran, an den strategischen Diskussionen und Planungsprozessen teilzuhaben.“ Zu gut Deutsch, Deutschland unterstützt nach wie vor die NATO-Position der Beibehaltung der Atomwaffen und will auch künftig bei der „Nuklearen Teilhabe“ mitreden. Das schließt sowohl die Beteiligung an den NATO-Befehlsstrukturen in Brüssel als auch das Vorhalten entsprechender Träger-Kapazitäten der Bundeswehr mit ein. Das Lippenbekenntnis zur atomwaffenfreien Welt ist nicht das Papier wert, auf dem es steht.

Ähnlich heißt es, die kommende Regierung setze sich „für den Schutz der Unabhängigkeit und autonomen Handlungsfähigkeit der Menschenrechtsinstitutionen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE)“ ein. Die OSZE hätte nach dem Kalten Krieg, nach dem Ende des Warschauer Vertrages und nach einer erwarteten Auflösung der NATO zu einer echten Regionalorganisation der kollektiven Sicherheit im Sinne der UNO-Charta werden können. Da die Regierung der USA und ihre Föderaten in Westeuropa die Auflösung der NATO unbedingt verhindern wollten, wurde die OSZE zu einer Einrichtung zur Beaufsichtigung der Menschenrechtslage in Europa gemacht. Das ist für sich genommen nichts Schlechtes, aber eine grundsätzliche Reduzierung der Rolle, die sie nach dem Ende der Systemauseinandersetzung hätte haben müssen. Auch dies wird mit dem Koalitionsvertrag fortgeschrieben.

In Bezug auf die Europäische Union wird Deutschlands „besondere Verantwortung“ als größter Mitgliedstaat hervorgehoben. Es müsse „als Stabilitätsanker weiterhin seiner Vorreiterrolle in Europa gerecht werden“. Zur Zukunft der EU heißt es, sie solle „zu einem föderalen europäischen Bundesstaat“ weiterentwickelt werden. Abgesehen davon, ob dies je das Bundesverfassungsgericht passieren würde, was nach dem Urteil zum Maastricht-Vertrag von 1993 zu bezweifeln ist, wird auch hier deutlich, dass die Herrschenden in Deutschland und der nun regierende modernisierte Teil ihrer politischen Klasse in der Auseinandersetzung mit den USA und China eine einheitlichere Handlungsfähigkeit der EU will. Dazu dienen auch die anvisierte Stärkung des „EU-Außenministers“, die Abschaffung weiterer Hürden bei der Einstimmigkeit der EU-Beschlüsse und die Stärkung des „Europäischen Auswärtigen Dienstes“.

Während die Passagen zu Bundeswehr und Militär recht lang sind, haben die Koalitionäre für „Zivile Krisenprävention und Friedensförderung“ ganze fünf Zeilen übrig. Die Ukraine, Georgien und Moldawien sollen stärker an die EU gebunden werden. Bei Lippenbekenntnissen „für eine verhandelte Zweistaatenlösung auf der Grundlage der Grenzen von 1967“, zu der seit über 50 Jahren nie eine israelische Regierung bereit war, sowie „Stopp des völkerrechtswidrigen Siedlungsbaus“ ist die harte Aussage, die Sicherheit Israels sei „für uns Staatsräson“. Die Formel, die Angela Merkel in die deutsche Außenpolitik eingefügt hatte, wird fortgeschrieben. In Bezug auf „einen zügigen Abschluss der Nuklearverhandlungen mit Iran“ gibt es nur Forderungen an die iranische Regierung. Die Obstruktionspolitik der US-Regierung auch unter Biden wird mit keinem Wort erwähnt. Zu Afghanistan, Afrika und Lateinamerika gibt es nur warme Worte, zu China die bekannten Leerformeln von „Partnerschaft, Wettbewerb und Systemrivalität“. Desgleichen zu Russland. „Fortschritt“ wagt diese Regierung nicht.