24. Jahrgang | Nummer 24 | 22. November 2021

Wer wen?

von Bernhard Romeike

Seit Beginn der akuten Flüchtlingskrise an der Grenze zwischen Belarus und den angrenzenden EU-Staaten, vor allem Polen, lautet die Legende, die in westlichen, auch deutschen staatstragenden Medien verbreitet wird, der böswillige Diktator Lukaschenko benutze Flüchtlinge aus dem Nahen Osten, um die EU zu erpressen und sich dafür zu rächen, dass diese „Sanktionen gegen sein Regime“ verhängt hatte. Am 15. November präsentierten die Nachrichtensendungen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens gleichsam in Endlosschleife den geschäftsführenden Außenminister Maas, der streng gescheitelt mitzuteilen wusste, die EU-Außenminister hätten nun noch schärfere Sanktionen gegen den belarussischen „Machthaber“ und andere Beteiligte beschlossen. Dass am selben Tag die Kanzlerin 50 Minuten lang mit Alexander Lukaschenko telefoniert hatte, um mal wieder, vielleicht ein letztes Mal, einen Konflikt auf dem Verhandlungswege zu entschärfen, bei dem andere nur schreien und pöbeln, wurde in den Nachrichten zunächst nur am Rande mitgeteilt. Kurz darauf kritisierte der Grüne Omid Nouripur unisono mit dem polnischen Präses Kaczynski Merkel deshalb heftig. Sachliche Diplomatie passt nicht in deren scharfmacherisches Politikverständnis.

Aber ist denn die „Wer-Wen-Frage“ mit dem ständigen Verweis auf die Instrumentalisierung der Flüchtlinge durch Lukaschenko hinreichend beantwortet? Aus der Geschichte der europäischen Auswanderung – sei es die von Iren oder die von Deutschen, Polen oder Tschechen über Bremen und Bremerhaven in die USA, später die von Juden aus Polen und Russland, die vor den Pogromen ebenfalls in die USA flüchteten – wissen wir, dass die entscheidende Kraft immer die Migranten selber waren. Das galt übrigens auch für die jüdischen und politischen Flüchtlinge, die in den 1930er Jahren vor den Hitlerfaschisten flohen. Insofern ist jetzt zu fragen, ob nur Lukaschenko die Flüchtlinge aus Irak, Syrien und Afghanistan „benutzt“ oder ob nicht diese auch ein Gelegenheitsfenster zu nutzen versuchen, dass sich für sie in Belarus geöffnet hatte.

Zunächst einmal schien das Risiko, im Grenzgebiet von Belarus und Polen im Wald ein paar Tage zu frieren und zu hungern, bevor sich der Weg in die EU-Länder öffnet, geringer, als das, im Mittelmeer zu ertrinken oder in den EU-finanzierten Lagern in Libyen gequält zu werden. Zumal unter den Augen der Weltöffentlichkeit. Die Bilder waren um die Welt gegangen und noch in Erinnerung, wie deutsche „Willkommenskultur“ aussieht oder wie Selfies mit der deutschen Bundeskanzlerin aussehen. Und die EU hatte stets verlautbart, jeder Asylantrag werde geprüft, wenn der Antragsteller den Boden der EU erreicht hätte. Dass das nicht nur von Griechenland und Ungarn, sondern nun auch von Polen und den baltischen Staaten außer Kraft gesetzt werden würde, war nicht unbedingt zu erwarten. Auch hatte die EU ja stets vorgegeben, die Menschenrechte wahren zu wollen – im Unterschied zu den „Autokraten“ in Minsk und Moskau.

In vereinzelten Reportagen aus Libanon, in denen offenbar nicht vorgefertigte ideologische Auftragslisten abgearbeitet werden, wurde berichtet, dass libanesische Reisebüros, die von Beirut aus agieren, die Flugreisen nach Minsk nebst Visa-Besorgung und Hotelbuchung organisieren. Dabei werden unterschiedliche Airlines und Wege benutzt. Eine solche Reise kostet dem Vernehmen nach umgerechnet 10.000 bis 15.000 Euro pro Person. Die das in Beirut bezahlen können, gehören in ihren Herkunftsländern eher nicht zur Dorfarmut.

Gleichzeitig wurde berichtet (welt.de, 15.11.2021), Europol habe eine „größere Schleuserbande“ von überwiegend aus Syrien stammenden Menschen aufgedeckt, die in Deutschland und den Niederlanden leben und in Deutschland, den Niederlanden und Polen agieren würden. Sie hätten ein „kriminelles Netzwerk“ gebildet, um „die Beförderung irregulärer Migranten aus dem Mittleren Osten via Belarus und Polen nach Westeuropa“ zu organisieren. Um jetzt die geschmuggelten Menschen nach Deutschland oder die Niederlande zu bringen, wurden Pkw und Kleinbusse gemietet und Fahrer angeheuert, meist Ukrainer, Balten und Georgier, die 100 Euro pro abgeholte Person verdienten. Ähnliche Netzwerke, so weiter welt.de, gäbe es ebenfalls von Irakern und Afghanen, die ihre Landsleute nach Deutschland einschleusten. Kann man denen das verdenken, nachdem der Westen ihre Länder mit Krieg überzogen hatte und nicht einmal in der Lage war, seine „Ortskräfte“ vor den Taliban zu retten? Formaljuristisch betrachtet waren jüdische und kommunistische Netzwerke, die nach 1933 „irreguläre Migranten“ in die USA brachten, ebenfalls kriminell.

Der polnische Innenminister Mariusz Kaminski hatte Mitte November den jenseits der Grenze Ausharrenden mitteilen lassen, es werde keine legale Durchreise durch Polen nach Deutschland geben. Deutsche Aktivisten von „Seebrücke“ und der Kampagne „LeaveNoOneBehind“, die per Bus Migranten von der Grenze zu Belarus nach Deutschland bringen wollten, wurden von den polnischen Behörden gestoppt. Das Narrativ, Polen habe schon 1683 Wien und Europa – damals in Gestalt des Angriffs seitens des Osmanischen Reiches – vor der islamistischen Gefahr bewahrt, wurde reaktiviert: Das tue es jetzt gerade wieder. In diesem Sinne werden aus hilfesuchenden Menschen in Not Feinde des abendländischen christlichen Polens gemacht. In diesem Sinne wurde dort unter Verweis auf Quellen aus Litauen und Belarus verbreitet, jenseits der Grenze würden sich kampferfahrene Veteranen des Irak- und Afghanistan-Krieges zusammenfinden, um mit Waffengewalt die Grenze zu überwinden. Der Ruf nach der NATO wurde lauter.

Abgesehen von wenigen aktivistischen Gruppen ist es in Deutschland in dieser Angelegenheit derzeit ruhig. Kaum jemand spricht sich für eine „Willkommenskultur“ im Namen der Menschlichkeit aus. Auch die Grünen sind auffällig ruhig, augenscheinlich mit Blick auf ihre künftig mittragende Regierungsrolle – wären sie Opposition gegen eine CDU-geführte Bundesregierung, klänge das gewiss anders. Heiko Maas, der eigentlich in der SPD ist, redet wie 2015 Horst Seehofer (CSU). Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) fordert, die deutsche Gesellschaft müsse die Bilder notleidener Menschen an der Grenze zur EU aushalten. Augenscheinlich will er der AfD ihre Positionen entwinden. Die „Bilder“, um die es jetzt geht, sind aber genau jene, die Angela Merkel und die Mehrheit der Deutschen damals nicht sehen zu wollen erklärten. Wenn jemand die Absicht hatte zu zeigen, wie der Westen seine verheuchelte Moralin-Maske abstreift, so ist das gelungen. Das hat die EU jetzt ganz von selbst besorgt.