Die alte Weltordnung der uneingeschränkten Dominanz des transatlantischen Westens befindet sich in einer tiefen Krise. Als größter Störfaktor für diese alte Weltordnung gilt China. Nicht weil China Hegemonialansprüche stellt, sondern weil es in den Augen der USA-Regierung wirtschaftlich zu erfolgreich ist. China hat in einem beispiellosen Entwicklungstempo innerhalb der letzten 30 Jahre die USA im Umfang des bereinigten Bruttoinlandsprodukts (BIP) eingeholt. Das ist zwar nur eine quantitative Kennziffer, die über den noch bestehenden technologischen Rückstand zu den USA nichts aussagt. Aber China hat den Hunger als soziales Problem im eigenen Land überwunden. Mit 1,4 Milliarden Menschen (etwa 17 Prozent der Weltbevölkerung) ist es als Regionalmacht in Asien unbestritten. China ist unersetzlicher Wirtschaftspartner aller Industriestaaten. Darüber hinaus trägt es mit dem global angelegten Seidenstraßenprojekt konstruktiv zur Entwicklung der Infrastruktur zahlreicher Staaten der sogenannten Dritten Welt bei und erhält dafür zunehmend Anerkennung von der Weltgemeinschaft.
Das beunruhigt vor allem die USA, die ihren geopolitischen Führungsanspruch durch diese Erfolge bedroht sehen. Es war Barack Obama, der während seiner Präsidentschaft bereits 2011 unter der Losung „Pivot to Asia“ eine strategische Umorientierung weg von Europa hin zur indopazifischen Region einleitete. Donald Trump reagierte mit „America first“ und begann, die USA schrittweisen aus Konfliktgebieten herauszuziehen. Joseph Biden setzt den auf globale Hegemonie zielenden außenpolitischen Kurs von Trump im Wesentlichen fort.
Im Sommer 2021 wurde offensichtlich, dass der ganze transatlantische Westen in eine geostrategische Defensivposition geraten war, als die staatliche Ordnung in Afghanistan binnen weniger Tage zusammenbrach. Die Streitkräfte der „Koalition von Willigen“, die das Land 20 Jahre lang besetzt hielten, um einen Regime Change herbeizuführen und das westliche Zivilisationsmodell durchzusetzen, räumten fluchtartig das Land und überließen es quasi widerstandslos den Taliban. Das war eine Niederlage des Westens, die die Welt verändert, aber keineswegs sicherer gemacht. hat.
Seitdem dominiert im Westen Ratlosigkeit, wie mit der neuen Situation umzugehen ist. Das Dilemma besteht darin, dass die USA samt Verbündeten ihren universalistischen Anspruch, als Maßstab der globalen Ordnung zu gelten, nicht aufgegeben haben und sich im Rahmen einer „Liga der Demokratien“ zum Kampf gegen eine „Liga der Autokratien“ verbarrikadieren. Das ist ein höchst gefährliches Unternehmen, dessen Ausgang offen ist. Statt die Probleme der Welt wie Armut, menschengemachten Klimawandel, Ressourcenverknappung, ungleichmäßige demografische Entwicklung und Pandemien in Kooperation zu bewältigen, setzt der Westen vorrangig auf Konfrontation. Die Hauptinstrumente dieser Politik sind Hochrüstung, Androhung militärischer Gewalt, Wirtschaftssanktionen und Medientrommelfeuer gegen China und Russland.
Konfrontationspolitik an sich ist heute noch weitaus stärker als vor über 30 Jahren ein eigenständiger Risikofaktor. Die Gefahren, dass die Konfrontation außer Kontrolle geraten kann, sind heute unvergleichlich größer. Dabei sollen drei Entwicklungen hervorgehoben werden, die nach dem Ende des Kalten Krieges insbesondere für die Industriestaaten Europas kennzeichnend sind:
Erstens: Die Empfindlichkeit dieser Staaten gegen destruktive Einwirkungen durch militärische und nichtmilitärische Gewalt ist mit der Globalisierung und Digitalisierung enorm gestiegen. Insbesondere die Abhängigkeit von Elektroenergie sowie von digitaler Kommunikation macht die gesamte Wirtschaft dieser Länder extrem verletzbar. Besonders anfällig gegen Störungen sind die vernetzten Infrastrukturen für Kommunikation, Energie, Wasser, Verkehr und allgemeine Versorgung. Die modernen Industriegesellschaften sind – was ihre eigenen Territorien betrifft – generell kriegsuntauglich. Selbst konventionelle Kriege sind für die Staaten der westlichen Welt nicht mehr führbar und gewinnbar, da sie zivilisationsgefährdende Folgen hätten.
Zweitens: Dazu kommt, dass neue Technologien völlig neue Möglichkeiten eines destruktiven Einwirkens auf Streitkräfte, Gesamtgesellschaft und Wirtschaft geschaffen haben, die noch unterhalb der Schwelle konventioneller Waffenwirkung bleiben. Das traditionelle Kriegsbild hat sich grundlegend gewandelt. Die Zeit raumgreifender Land- und Luftkriegführung mit Massenheeren ist vorbei. Insbesondere die Ausdehnung von Konflikten auf den Weltraum und den Cyberspace verwischt die Grenzen zwischen militärischen und nichtmilitärischen Aktivitäten – und damit zwischen Krieg und Frieden. Vor allem verringert sich durch die Tendenz zur Automatisierung militärischer Entscheidungen der Spielraum für eine Politik der Deeskalation.
Drittens: Schließlich fehlt gegenwärtig weitgehend das Deeskalationsinstrumentarium, das seit Mitte der 1970er Jahre die Blockkonfrontation reguliert beziehungsweise eingedämmt hat. Hierzu gehörten zum Beispiel die vereinbarten Mechanismen zur Verifikation von Abrüstung und Rüstungsbegrenzung, zur Manöverbeobachtung sowie eine Vielzahl von Vertrauens- und Sicherheitsbildenden Maßnahmen (VSBM). Der weitgehende Verlust des Rüstungskontrollmechanismus erhöht vor allem in den Industriegesellschaften Europas und Nordamerikas das Risiko einer unkontrollierbaren Eskalation bis zu einem großen Krieg.
Insgesamt sind die Gefahren einer aus dem Ruder laufenden Eskalation von Konflikten gewachsen. Die bisher vor allem von Militärs angestrebte Eskalationsdominanz wird damit zum Hemmnis für einen politischen Prozess der Entspannung. Angesichts ihrer partiellen Abwendung von Europa und der zunehmenden Unberechenbarkeit US-amerikanischer Politik bei gleichzeitiger Bewertung Deutschlands und der Europäischen Union als strategische Gegner müssen die USA derzeit eher selbst als sicherheitspolitischer Risikofaktor für Deutschland und Europa betrachtet werden.
Diese Entwicklungen sind nicht nur eine Herausforderung für die neue Bundesregierung – sondern auch für die Friedensbewegung. Die Friedensfrage ist generell komplexer und komplizierter geworden. Pazifismus allein reicht zur Lösung dieser Frage weniger denn je aus. Bewusstes Engagement für den Frieden beginnt nicht erst bei der Auseinandersetzung über Rüstungsexport und Militäreinsätze, sondern bereits beim Nachdenken über konfrontative Politik und deren Konsequenzen.
Der Kampf um den Frieden erhält damit neue Inhalte, die beispielsweise Fragen der internationalen Kooperation für die Lösung der globalen Probleme betreffen – über alle real bestehenden Rivalitäten hinweg. Deutschland und die gesamte EU sollten hierbei nicht als Player mit globalem Machtanspruch auftreten, sondern als Mittler zwischen den großen Rivalen. Deutschland und die EU müssen mehr Verantwortung übernehmen, um Frieden, Stabilität und Entwicklung für alle Staaten zu ermöglichen.
Das setzt aber auch eine neue Qualität der Kooperation aller Friedenskräfte voraus. Mehr denn je muss sie allen kleinlichen Streit untereinander überwinden und zu breiter Aktionseinheit finden. Das verlangt Geduld, Klugheit, Kreativität und Kompromissbereitschaft. Die Erinnerung an den „Minimalkonsens“ aus der Zeit der „Nachrüstungsdebatte“ Anfang der 1980er Jahre könnte ein neuer Anfang sein.
Schlagwörter: China, Deutschland, Friedensbewegung, Konfrontationspolitik, USA, Wilfried Schreiber