24. Jahrgang | Nummer 23 | 8. November 2021

Dostojewski und Deutschland

von Mathias Iven

Der 1846 erschienene Roman „Arme Leute“ hatte den Fünfundzwanzigjährigen schlagartig berühmt gemacht – doch der ganz große Erfolg ließ noch auf sich warten. Seine Beziehungen zu revolutionären Kreisen brachten ihn ins Gefängnis, es drohte gar die Todesstrafe. Vier Jahre lang hatte er in der sibirischen Festung Omsk Zwangsarbeit zu leisten, danach musste er fünf Jahre als einfacher Soldat im kasachischen Semipalatinsk dienen. 1859 kehrte er nach Petersburg zurück, kurz darauf gründete er gemeinsam mit seinem Bruder eine Zeitschrift. Um die Jahreswende 1860/61 veröffentlichte er die ersten Kapitel der „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“, seine Abrechnung mit dem menschenverachtenden System der russischen Straflager. Im Sommer 1862 brach er zu seiner ersten Reise nach Westeuropa auf: – die Rede ist von Fjodor Michailowitsch Dostojewski, der am 11. November vor 200 Jahren in Moskau geboren wurde.

Er besuchte Paris, London und Wien, reiste durch die Schweiz und Italien. Europa war für Dostojewski das „Land der heiligen Wunder“. Doch was ihn eigentlich trieb, war weniger Neugier oder touristisches Interesse. Da waren seine Schulden und vor allem seine Spielsucht, die ihn über Jahre hinweg immer wieder in die Casinos führte. Und da war seine Besessenheit vom Schreiben. Doch ohne die Aufenthalte in Europa wäre Dostojewskis Werk wohl kaum zu denken, so jedenfalls urteilt die Slawistin und Literaturwissenschaftlerin Karla Hielscher in ihrem anlässlich des Jubiläumsjahres neu aufgelegten, erstmals 1999 erschienenen Bändchen „Dostojewski in Deutschland“. Schauen wir auf einige Stationen seines Weges:

Wiesbaden – Am 24. Juni 1862, er ist auf der Durchreise nach Frankfurt, hält sich Dostojewski zum ersten Mal in der Stadt auf. Im darauffolgenden Jahr kommt er wieder, im Sommer 1865 macht er für fast zwei Monate hier Station. Die Spielleidenschaft, die schon auf der ersten Auslandsreise von ihm Besitz ergreift und von der er die Erlösung aus seiner ewigen Geldnot erhofft, geht nicht nur mit einer zerstörerischen Faszination einher, sie befördert zugleich seine Kreativität. So kommt ihm im April 1868 „nach dem Verlust im Spiel der Einfall zu ,Schuld und Sühne‘“. Wiesbaden ist aber nicht nur der Ort, an dem seine Spielleidenschaft ausbricht, er wird sie hier fast zehn Jahre später auch endlich überwinden. Am 28. April 1871 schreibt er an seine zweite Frau Anna Grigorjewna, die er vier Jahre zuvor geheiratet hat: „Mit mir ist Großes geschehen, der niederträchtige Wahn, der mich fast zehn Jahre quälte, ist verschwunden. […] Das war endgültig das letzte Mal! […] das Spiel hatte mich gefesselt, nun werde ich an die Arbeit denken und nicht ganze Nächte hindurch vom Spiel träumen.“

Bad Homburg –Zwischen 1863 und 1870 verbringt Dostojewski knapp zwei Monate dort. Liest man die an seine Frau gerichteten Briefe aus dieser Zeit (soeben in einer Auswahl mit informativen Einführungstexten veröffentlicht), findet man sich sofort in die Atmosphäre seines Romans „Der Spieler“ versetzt, dessen letztes Kapitel in Bad Homburg angesiedelt ist. Da heißt es beispielsweise im Mai 1867: „Wenn ich mir wenigstens noch vier Tage Zeit lassen könnte, würde ich in diesen vier Tagen bestimmt alles zurückgewinnen.“ Und nur zwei Tage darauf muss Dostojewski schuldbewusst bekennen: „Ich habe ein Verbrechen begangen, ich habe alles verspielt, was Du mir geschickt hast, alles, alles bis auf den letzten Kreuzer, gestern habe ich es bekommen und gestern verspielt!“

Baden-Baden – Nicht nur die in Wiesbaden und Bad Homburg gewonnenen Erfahrungen wirken im „Spieler“ nach. Auch die berühmte „Sommerhauptstadt Europas“ fand Eingang in das „Roulettenburg“ seines Romans. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts war Baden-Baden ein Treffpunkt der russischen Hocharistokratie und wurde auch in Literatenkreisen geschätzt. Gogol, Tolstoi, Gontscharow … Sie alle haben dort gekurt – und natürlich gespielt. Turgenjew kam 1863 und blieb sieben Jahre. Für Dostojewski, der von der moralischen Überlegenheit Russlands und seiner künftigen Mission überzeugt war und sich bewusst den materiellen Errungenschaften der europäischen Großmächte verschloss, war Turgenjew der typische Vertreter der vom heimischen Boden losgelösten und das eigene Land nicht begreifenden „Westler“. Und so war es nicht verwunderlich, dass die beiden bei einem Treffen im Sommer 1867 aneinandergerieten, hatte doch Turgenjew erklärt: „Wenn Russland vom Erdboden verschwände, bedeutete das weder einen Verlust, noch würde es die Menschheit erregen.“

Dresden – In keiner anderen deutschen Stadt hat sich Dostojewski länger aufgehalten. Für fast zweieinhalb Jahre wurde ihm die sächsische Residenz zur zweiten Heimat. „Ich bin durch Dresden gefahren und habe keine Vorstellung von Dresden behalten“, heißt es etwas irritierend an einer Stelle im „Spieler“. Doch zumindest einen festen Anlaufpunkt gab es. Als das Ehepaar sich nach mehreren kürzeren Abstechern zwischen August 1869 und Juli 1871 fast ausschließlich in der Elbmetropole aufhält – kurz nach der Ankunft kommt dort am 14. September ihre Tochter Ljubow Fjodorowna zur Welt –, gehören Besuche in der Gemäldegalerie zu ihrem Alltag. Raffaels Sixtinische Madonna, die an mehreren Stellen in seinem Werk auftaucht, stellte für Dostojewski in der Rückschau seiner Frau „die höchste Offenbarung des menschlichen Geistes“ dar. „Später sah ich“, schreibt sie in ihren 2015 in einem Moskauer Verlag erstmals vollständig publizierten und jetzt in einer kongenialen Übersetzung vorliegenden Erinnerungen weiter, „dass mein Mann stundenlang ergriffen und gerührt vor diesem Bild von erstaunlicher Schönheit stehen konnte.“ In den Herbst- und Wintermonaten 1869/70 entsteht in Dresden die Erzählung „Der ewige Gatte“, anschließend widmet er sich der Arbeit an dem Roman „Die Dämonen“.

Bad Ems –In den siebziger Jahren kommt Dostojewski vier Mal in die durch ihre Heilquellen bekannt gewordene Stadt, Treffpunkt der eleganten Welt und des europäischen Hochadels. Schon bei seinem ersten Aufenthalt begegnet er im Juni 1874 nicht nur Kaiser Wilhelm I., „einem großgewachsenen, hochmütig wirkenden alten Herrn“, sondern auch dessen Neffen, Zar Alexander II. „Man erzählte mir“, berichtet er seiner Frau, „dass Deutsche wie Russen (besonders die Damen unserer höheren Gesellschaft) ganz erpicht darauf sind, dem Zaren unterwegs zu begegnen und vor ihm zu knicksen.“ Der schwerkranke Dostojewski – seit Jahren litt er neben seiner Epilepsie an einem Lungenemphysem – hofft, mit den Kuren in Bad Ems seine Gesundheit und seine Arbeitskraft noch für einige Jahre erhalten zu können. So ist es für ihn weniger ein Vergnügen als eine qualvolle Pflicht, sich den Anweisungen seines Badearztes Dr. Orth zu fügen. Im Juli 1875 weiß er zu berichten: „Ich habe mich gesundheitlich niemals wohler gefühlt als in diesem scheußlichen Ems: Anfalle hatte ich Gott weiß wie lange nicht mehr, mit der Brust ist es offenbar besser, und körperlich fühle ich mich frisch und munter.“ Er verkehrt zumeist mit Landsleuten, zieht sich aber weitgehend zurück und konzentriert sich auf seine Arbeit. Während seines ersten und zweiten Aufenthalts 1874/75 schreibt er an seinem Roman „Der Jüngling“, im Sommer 1876 entstehen Teile seines „Tagebuchs eines Schriftstellers“ und 1879 beendet er dort einen Schlüsseltext aus dem 6. Buch seines großen Vermächtnisromans „Die Brüder Karamasow“, das Kapitel „Ein russischer Mönch“.

Schließen wir mit dem Urteil von Albert Camus, der 1955 in einer Rede über Dostojewski sagte: „Auch heute noch hilft er uns dabei zu leben und zu hoffen.“ Also, lesen wir Dostojewski!

Karla Hielscher: Dostojewski in Deutschland, Insel Verlag, Berlin 2021, 290 Seiten, 14,00 Euro.

Fjodor Dostojewski – Anna Dostojewskaja: Ich denke immer nur an Dich – Eine Liebe in Briefen. Aus dem Russischen von Brigitta Schröder, Aufbau Verlag, Berlin 2021, 333 Seiten, 22,00 Euro.

Anna Dostojewskaja: Mein Leben mit Fjodor Dostojewski – Erinnerungen. Aus dem Russischen von Brigitta Schröder, Aufbau Verlag, Berlin 2021, 565 Seiten, 26,00 Euro.