Eric Gujer, der oft recht hellsichtige Kommentator der Neuen Zürcher Zeitung, meinte in der Ausgabe vom 15. Oktober zur deutschen Regierungsbildung: „Zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte wird die Bundesrepublik eine Regierung erhalten, die mutmaßlich aus drei Bundestagsfraktionen besteht.“ Tatsächlich gehören der Bundesregierung Minister (-innen sind mitgedacht) an, Fraktionen dagegen sind Teile des Bundestags, sie bilden eine Regierungskoalition und die stellt den Kanzler und die Minister. Gujers Formulierung kann man als einen Lapsus linguae ansehen, der dem journalistischen Schnellschreiben entspringt. Schwerer wiegt, dass auch dieser Autor der derzeit Mode gewordenen Sichtweise folgt, es handele sich erstmals um eine Drei-Parteien-Koalition.
Das wird derzeit von etlichen Journalisten, die mit Vorliebe voneinander abschreiben, wiederholt. Es ist jedoch dessen ungeachtet sachlich falsch. Die erste Adenauer-Regierung von 1949 war bereits eine Regierung von Ministern aus drei Fraktionen: der Union – schon hier gebildet von CDU und CSU – sowie der FDP, die damals in weiten Teilen nicht nur eine liberale, sondern eine national orientierte Partei war und deshalb im Deutschen Bundestag seit 1949 rechts von der CDU/CSU sitzt, und der Deutschen Partei (DP), die eine offen rechtsgerichtete Partei war.
Die zweite Adenauer-Regierung von 1953 hatte sogar Minister aus einer weiteren Partei: Der „Gesamtdeutsche Block/Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten“ (BHE) hatte 5,9 Prozent der Zweitstimmen erreicht und wurde von Konrad Adenauer ebenfalls an der Regierung beteiligt. Auch wenn wichtige Politiker des BHE sowie der DP in den 1950er Jahren ihre ursprünglichen Parteien verließen, der CDU beitraten und beide Parteien dann in der Bedeutungslosigkeit verschwanden, ist zu vermerken: Es gab in der Bundesrepublik Deutschland bereits Regierungen, die von vier und mehr Parteien gestellt wurden. Das gilt auch für eine Reihe von Landesregierungen, an denen DP, BHE und andere damals beteiligt waren.
Gujer könnte natürlich versuchen sich herauszureden, weil er „in der jüngeren Geschichte“ geschrieben hat. Allerdings wird in der Systematik der Geschichtswissenschaft Zeitgeschichte als die Spanne seit dem Zweiten Weltkrieg bestimmt. Die Adenauer-Bundesrepublik gehört dazu.
Wichtiger als die historische Unkenntnis ist Gujers Darstellung der derzeitigen deutschen Zustände. Er fragt, ob Deutschland instabiler, „gar schwächer in der neuen Konstellation“ werde. „Merkels Jahre“ seien „verlorene Jahre“ gewesen. Die 2010er Jahre seien „zu einem eigentlichen deutschen Jahrzehnt“ geworden, während die 2020er Jahre dies kaum zu werden versprechen. „Die Euro-Krise und die russische Annexion der Krim machten die Bundesrepublik zum europäischen Finanz-Hegemon und wieder einmal zur Schaltzentrale der Ostpolitik. Die turbulenten Trump-Jahre und der Brexit ließen erst recht ausländische Beobachter auf Berlin als Stabilitätsanker vertrauen.“
Richtig ist, dass dieses Deutschland im Gefolge der Bewältigung der Finanzkrise den Höhepunkt seiner Macht innerhalb der Europäischen Union erreicht hatte, was seinen offenbaren Ausdruck in der Entmachtung der gewählten griechischen Regierung und der Oktroyierung eines Regimes der Schuldknechtschaft auf das Land mit Hilfe der EU fand. Das war für alle anderen EU-Staaten ein klares Zeichen. Großbritannien trat aus der EU aus, weil es nicht unter der Vormundschaft der EU-Kommission und des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) stehen wollte, die letztlich als Subordination unter Berlin verstanden wurde. Polen und Ungarn versuchen, ihre staatliche Souveränität mit ihrer EU-Mitgliedschaft auszubalancieren. Zugleich sind Polen und andere Staaten nicht bereit, nach deutschem Beispiel die hohen Kosten eines Kohleausstiegs zu tragen, ohne dass es andere preisgünstige Energieträger gibt. Frankreich stellt sich in der Frage der Atomenergie inzwischen offen gegen die deutsche Ausstiegspolitik, während auch in Polen auf Kernenergie als Alternative zum CO2-Ausstoß gesetzt wird.
Offenbar ist nicht nur der unipolare Moment der USA in der Weltpolitik vorüber, sondern auch der der Deutschen in der EU. Ursula von der Leyen als Kommissionspräsidentin ist gleichsam die letzte Reserve, um im Namen des Gemeinschaftsrechts deutsche Interessen umzusetzen. Nach Gujer werde die EU Deutschland zur Last, „die viel kostet, aber immer weniger bringt“. Das ist falsch. Ohne das Hinterland EU ist Deutschland mit Mühe ein mittelmäßiger Spieler in der Weltpolitik, auch in weltwirtschaftlicher Hinsicht. Die nassforschen deutschen Journalisten argumentieren derzeit, ein Austritt aus der EU sei für Polen nicht möglich, weil es von der Verflechtung der Lieferketten abhängig sei. Das aber ist wechselseitig. Die Visegrád-Staaten – Polen, Ungarn, Tschechische Republik und die Slowakei – sind Deutschlands wichtigste Handelspartner, seine verlängerte Werkbank. Insofern ist Deutschland mindestens so abhängig von Polen wie umgekehrt.
Die Russland-Politik Angela Merkels war ebenfalls Ausdruck dieses machtpolitischen 2010er Jahrzehnts. Sie war fixiert auf die Unterstützung der USA in der Ukraine-Politik und meinte, dieses Land in den deutschen Machtbereich bugsieren zu können. Russland hat mit der Eingliederung der Krim geantwortet, und es gibt keine Chance, dem wirksam entgegenzutreten, nicht einmal mit einem heißen Krieg der NATO, den auch die USA gegen Russland nicht zu führen bereit sind, weil es ein atomarer Weltkrieg wäre. Insofern müsste im Sinne der Erfahrungen der Entspannungspolitik während des Kalten Krieges gegenüber Russland ein Modus vivendi gefunden werden, die unlösbaren Streitfragen auszuklammern, in den Sachbereichen die Zusammenarbeit zu reaktivieren und die sogenannten Sanktionen abzuschaffen. Die bisherigen Bekundungen von Politikern, die voraussichtlich die neue Regierung bilden werden, klingen nicht so, als hätten sie dies tatsächlich verstanden.
Schließlich stellt Gujer fest: „In dem Großkonflikt zwischen den USA und China spielt Berlin eine passive Rolle, darauf bedacht, das Schlimmste für seinen Außenhandel abzuwenden.“ Ja, was denn sonst? Gegenüber China hat Merkel 16 Jahre lang eine geschickte, sachgerechte Politik betrieben, die dem deutschen Wirtschaftsleben und der Beschäftigungslage im Lande genützt hat. Das sollte das neue Personal ebenfalls tun.
Schlagwörter: Angela Merkel, Außenpolitik, Erhard Crome, Eric Gujer, EU, Regierungsbildung