Die großen Events, die Buchmessen in Frankfurt am Main und zuvor schon in Leipzig, sind vorüber. Ein neuer Lese-Winter steht bevor. 2020 wurden in Deutschland 77.272 Titel als Erst- und Neuauflage verlegt. Für 2021 wird ein ähnlich hoher Produktionsumfang erwartet. Die Vorfreude darauf bietet aber auch Anlass, sich den im Zeitverlauf gründlich gewandelten Umgang mit Büchern in Erinnerung zu rufen. Dabei wird deutlich, dass sich in den zurückliegenden Jahrzehnten nicht nur die Lesevorlieben und -gewohnheiten erheblich gewandelt haben, sondern auch die Art und Weise des Erwerbs, des Sammelns, der Aufbewahrung, der Weitergabe und schließlich der Entsorgung von Büchern. Dies ist nicht nur den durch Marktwirtschaft und Internet veränderten Kauf- und Nutzungsmöglichkeiten geschuldet, sondern ebenso einem Wertewandel in der Gesellschaft und einer Revolutionierung der Medienkultur.
Heute kauft man Bücher immer häufiger online, über Amazon, Abebooks, ZVAB, Medimops und so weiter. Knapp die Hälfte aller Bücher gelangen durch den Versandbuchhandel oder direkt durch die Verlage an die Kunden, 42 Prozent durch den stationären Sortimentsbuchhandel und rund 10 Prozent auf „sonstigen“ Wegen. Das große Geschäft machen eindeutig die großen Online-Händler, allen voran Amazon, ferner Handelsketten wie Hugendubel und Thalia. Daneben gibt es noch eine Jahr für Jahr kleiner werdende Anzahl lokaler Buchläden, aber deren Umsatz ist, gemessen an den Marktführern der Branche, verhältnismäßig gering. Die insgesamt noch beachtlichen, wenn auch in realer Rechnung (also preisbereinigt) stagnierenden oder sogar rückläufigen Umsätze im Buchhandel (2020: 9,3 Milliarden Euro, 2010: 9,7 Milliarden, 2000: 9,4 Milliarden Euro) dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich beim gedruckten Buch inzwischen um ein Relikt früherer Jahrhunderte, um ein Auslaufmodell der Medienkultur handelt. Seine historische De-Inszenierung weist viele Facetten auf. Sie reicht von der sukzessiven Zurücksetzung und Vernachlässigung im Vergleich zu anderen Medien bis zur verbalen Entwertung des Buches als kulturelles Objekt. Dies zeigt sich nicht zuletzt darin, dass gebrauchte Bücher heute vielfach als „unverkäuflich“ gelten und daher nur noch gegen eine Spende oder zu einem symbolischen Preis von einem Euro oder weniger gehandelt werden. Aber selbst neue Bücher lassen sich bereits ein Jahr nach ihrem Erscheinen oftmals nur noch mit hohen Preisabschlägen verkaufen. Insgesamt werden, gemessen an den Umsätzen anderer Medien, wo kräftige Zugewinne zu verzeichnen sind, immer weniger Bücher produziert, verkauft und gelesen. Letzteres vermutlich noch in weit höherem Maße als die Produktions-, Verkaufs- und nominalen Umsatzzahlen erkennen lassen.
Bezeichnend für die veränderte Situation ist ein Erlebnis, dass ich kürzlich in H., einer märkischen Kleinstadt, hatte. Bei einem Stadtrundgang fiel mein Blick zufällig auf ein Schaufenster voller Bücher. Die nähere Erkundung ergab, dass es sich hierbei um eine Tauschbörse für gebrauchte Bücher handelte. Es war aber auch möglich, gegen Entrichtung einer kleinen Spende eine beliebige Anzahl Bücher mitzunehmen, ohne selbst welche abzugeben. Während der nächsten Stunde betraten mindestens zehn Anwohner, beladen mit Kartons und Taschen voller Bücher, die „Tauschbörse“. Sie wollten ihre Bücher aber nur loswerden; keiner nahm auch nur ein einziges Buch mit. Diesbezüglich ergangene Aufforderungen des Personals wurden entweder ignoriert oder empört zurückgewiesen: Man brauche heutzutage keine Bücher mehr, Lesen sei „out“. Bücher seien ein Ballast vergangener Zeiten. Sie würden nur herumstehen, Platz wegnehmen und einstauben. Also: Weg damit! – Ich hatte mir bald einen ordentlichen Stapel an Büchern zusammengesucht und den dafür vorgesehenen Obolus in das am Ausgang bereitstehende Sparschwein gesteckt, wurde dann aber vom Personal daran gehindert, die Tauschbörse zu verlassen: Man wollte, dass ich noch mehr Bücher mitnehme und begründete dies damit, dass sich Kunden wie ich höchst selten, eigentlich fast nie, in die Tauschbörse verirrten und man deshalb bald am Überfluss an Büchern „ersticke“.
Ein Erlebnis ganz anderer, ja gegensätzlicher Art ist mir aus der Zeit der DDR in Erinnerung. Als ich Ende der 1970er Jahre wieder mal mein Lieblingsantiquariat in M. besuchte, staunte ich nicht schlecht, vor leeren Regalen zu stehen. Goethe, Schiller, Lessing, Heine, Tieck, Ganghofer, Meyer, Storm, Raabe, Reuter, Hauptmann, Gorki und die anderen Ladenhüter – alles weg! Sollte die DDR über Nacht doch noch zu einem „Leseland“ geworden sein? – Eher nicht, denn mit einem Anstieg des „Lesehungers“ breiter Bevölkerungsschichten hatte der Run auf die „alten Klassiker“ wenig zu tun. Der Besitzer des Ladens erklärte mir: Die Ursache für die plötzlich gestiegene Nachfrage nach raumfüllenden Klassikerausgaben sei Honeckers Wohnungsbauprogramm. Viele junge Familien würden jetzt Neubauwohnungen beziehen und hätten in ihren Wohnzimmern Schrankwände, aber nichts Passendes zum Hineinstellen. Als probate Lösung dafür würden sich die überzähligen „Klassiker“ anbieten, die seit Jahrzehnten in Antiquariaten und Buchläden stünden und verstaubten. In Leder und Pergament gebundene Gesamtausgaben aus dem 19. Jahrhundert waren ebenso gefragt wie die schlichteren Auswahlbände in Leinen oder farbiger Pappe aus DDR-Verlagen. Dass die Ausstattung der Bücher veraltet war und die altdeutsche Frakturschrift nur schwer lesbar, störte nicht, da es den Käufern mehr auf den raumfüllenden und dekorativen Effekt als auf den Inhalt ankam. Sie wurden also gekauft. Ob dabei mitunter auch die Vorspiegelung klassischer Bildung eine Rolle gespielt hat, soll dahingestellt bleiben. Auf jeden Fall wurde der „Prestigewert“ der Klassiker damals höher veranschlagt, als dies heute der Fall ist.
Gäbe es das Antiquariat in M. noch, würden sich die Klassiker dort vermutlich inzwischen wieder eingefunden haben. Vielleicht aber wären sie auch längst recycelt worden oder auf dem Müll gelandet. Wie die Schrankwände auch, die inzwischen Projektionsflächen für das Heimkino oder Antikmöbeln weichen mussten. – Die Zeiten ändern sich. Und mit ihnen die Vorlieben. Nicht zuletzt auch die für Bücher.
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