24. Jahrgang | Nummer 22 | 25. Oktober 2021

Träume von Freiheit

von Ingeborg Ruthe

Europa um 1800. Zu den Brückenbauern müssen wir durch ein Labyrinth. Das hat der amerikanisch-polnische Architekt Daniel Libeskind ins Dresdner Albertinum hineingebaut, zur Hälfte mit hellen, zur Hälfte mit schwarzen Wänden hinter den 140 Bildern. Entstanden ist ein Koordinatensystem aus Achsen und Sackgassen. Darin treffen deutsche und russische Maler mit ihren utopischen und enttäuschten „Träumen von Freiheit“ immer wieder aufeinander. Es ist eine erzählende, zugleich diskursive Schau. Denn zwischen den alten Romantikern hängen auch Bilder heutiger Künstler wie Wolfgang Tilmans, Susan Philipsz, Hiroshi Sugimoto, Andrey Kuskin, Boris Mikhailow. Als Signale des Freiheitsgedankens.

„Träume von Freiheit. Romantik in Russland und Deutschland“ zeigt uns Meisterwerke aus beiden Ländern erstmals gemeinsam. Das ist ein Austausch, wie er bislang noch nie zustande kam. Ein Meilenstein. Freiheit und Bürgerrechte sind heute nicht nur Traum, sondern Leitprinzip für politisches Handeln – auch in der schwierigen Zusammenarbeit mit Russland. Deutsche und russische Museumsleute wurden in den vier Jahren Zusammenarbeit zu Freunden, derweil aber die Beziehungen durch die deutsch-russische Polit-Gemengelage komplizierter und kälter geworden sind.

In der Moskauer Tretjakow-Galerie startete das aufwendige Gemeinschaftsprojekt unter Corona-Einschränkungen. Dafür dort mit doppelt so vielen Bildern auf riesiger Fläche. Für Dresden haben die Kuratoren Holger Birkholz, Ljudmila Markina und Sergej Fofanow – auch Letztere hielten ihre Preview-Vorträge auf Deutsch! – sich angesichts der Hälfte des Platzes konzentrieren müssen auf Protagonisten der deutschen und russischen Romantik: Caspar David Friedrich, Carl Gustav Carus, Alexej Wenezianow, Alexander Iwanow.

„Schläft ein Lied in allen Dingen […]“ dichtete dereinst Joseph von Eichendorff. Dieser Gedanke prägte zuerst die Dichtung der Romantik und bald darauf auch die Malerei: innerstes Empfinden und ein starkes Gefühl für die übermächtige Natur. Viele der Romantiker, in Russland wie in Deutschland, gaben ihrer arkadischen Sehnsucht Ausdruck. Andere malten Barrikadenkämpfe. Und derweil wir uns andächtig in Wenezianows hinreißende bäuerliche Madonna „Bei der Ernte. Sommer“ – quasi die „Mona Lisa“ der Tretjakow-Galerie – versenken, wartet hinten in einer Vitrine eine verstörende Reliquie vom Hegelschen „Weltgeist zu Pferde“: Napoleons Reitstiefel aus der Rüstkammer der Dresdner Kunstsammlungen.

Künstler sind immer Kinder ihrer Zeit. Auch damals in Russland und in Deutschland, in der vorindustriellen Umbruch-Zeit von 1800 bis 1848. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – die Ideale der Französischen Revolution verbreiteten sich über ganz Europa. Doch Napoleon überzog den Kontinent mit Krieg, die konservativen Regierungen in Russland und den deutschen Ländern schränkten Bürgerrechte ein. Europa war zerrissen zwischen alter und neuer Herrschaftsordnung, zwischen aufstrebenden Wissenschaften und Natureinfühlung, zugleich aber auch zwischen Leibeigenschaft (Russland) und der Lohnarbeit in den westlichen Ländern. Diese Zeit des Umbruchs stellten die Romantiker in einen emotionalen Kosmos mit revolutionärem, utopischem Potenzial – der subjektiven Freiheit. Caspar David Friedrich notierte in Dresden ins Tagebuch: „Des Künstlers Gefühl ist sein Gesetz“, und Puschkin schrieb in St. Petersburg: „Solang die Freiheit in uns brennt/Solang im Herzen Ehre lebt […]“.

Ein Weltbild von Fernweh, Elegie, Pathos, Idyll und Dramatik trieb die Romantiker aus der akademischen wie gesellschaftlichen Enge hinaus in die Welt. Oder auch nur in die nächste idyllische Umgebung, wie Ludwig Richters „Die Überfahrt am Schreckenstein“ sie zeigt. Auch Anton Iwanow-Golubois „Insel Walaam bei Sonnenuntergang“ ist ein idealisiertes Bild der heimischen Natur. Beide Künstler überhöhten das Motiv der Überfahrt allegorisch, wie aus der Zeit gefallen. Und da sind viele Bilder der Italien-Sehnsucht, aus dem Land, wo die Zitronen blühen. Ein Versprechen von Freiheit und Glück, das sich im 20. Jahrhundert, in den Wirtschaftswunderjahren der Bundesrepublik, bekanntlich obsessiv in Autostaus am Brenner wiederholte, Sommer für Sommer.

Im Zentrum der Romantik steht das „Ich“ mit individuellen Gefühlen und eigener Ideenwelt. Mit Selbstporträts erstritten Maler in Russland sich Respekt, deutsche Romantiker signalisierten so ein Höchstmaß an innerer Freiheit. Die Landschaftsmalerei sprengte akademische Normen, das Veränderliche der Natur wurde bedeutsam: Orts-, Jahres-, Tageszeit. Die für den Klassizismus typische klare Abgrenzung von Vorder-, Mittel- und Hintergrund war plötzlich überholt. Das Studium der Natur brachte Licht, Luft und mystische Nachtgestirne in die Gemälde. Bei Alexander Iwanow sind es die Wolken, bei Johan Christian Dahl der farbige Himmel, bei Carus die dramatische Meeresbrandung und heraufziehender Sturm.

Das Bild der Heimat entsteht aus dem Gefühl ihres Verlusts. Der aus Greifswald stammende Caspar David Friedrich fand erst in Dresden seine neue Bildsprache, als metaphorischen Ausdruck von Seelenlandschaften: Die Figuren wenden uns den Rücken zu, als Teil grandioser Natur, oft mit Ruinen und Eichen und bei Vollmond zwischen Kreidefelsen. Vor einem Gipfelkreuz überm dunstigen Tal oder einsam am Meer. Das Ganze aufgeladen mit der Illusion der Grenzenlosigkeit bis zum Horizont. So als deklamierte jemand Hölderlins „Grazie der göttlichen Natur“. Derweil in Maxim Worobjows „Unwetter“ der Blitz gerade eine Eiche spaltet. Welch ein Gleichnis für den Zustand der Welt. Bis heute.

„Träume von Freiheit. Romantik in Russland und Deutschland“, Albertinum, Dresden, bis 06.02.2022; Dienstag–Sonntag, 10–18 Uhr; Katalog 49,90 Euro.

Berliner-Zeitung, 03.10.2021. Übernahme mit freundlicher Genehmigung der Autorin und des Verlages.