Aus der angeblichen Hochphase der russischen Freiheit während des Zerfalls der Sowjetunion und in den wilden Neunzigern im Russland unter Boris Jelzin stammt dieses entschuldigende Wort: „Мы учимся демократии“, wir lernen Demokratie. Für das Studium ihrer westlichen Ausprägung empfahlen sich immer wieder gern deutsche Politiker und Medien als selbst ernannte Lehrmeister. Das schlug an. Denn wie „Wahlen gemacht sind, bei denen gewählt wird“, war der Nowaja Gasjeta eine Sonderreportage aus Köln wert. „Die Wahl ist ein Prozess mit einem Parteienrennen und Fernsehdebatten“, schrieb Alexandr Minejew vom sonntäglichen Wahlnachmittag. Zu hoher Beteiligung komme es „nicht aufgrund von Zwang oder Verlockung, sondern weil jeder auf dem Wahlzettel eine Wahlmöglichkeit findet, die ihm gefällt“.
Doch schon der Hinweis, dass der Ausgang der Wahl „bis zum Schluss ein Rätsel“ sei und „es bei den deutschen Wahlen noch vieles (gibt), was für unsere Verhältnisse ungewöhnlich ist…“, geriet dem Autoren des kremlkritischen Blattes von Mitbesitzer Michail Gorbatschow zum ungewollten Doppelsinn. Denn zwei Tage drauf hieß es: „Undurchsichtige Urnen, unvorhersehbare Ergebnisse.“ Zu berichten war über das Berliner Chaos mit falschen Stimmzetteln, geschätzten Resultaten, Abstimmung nach Wahlende, den Rücktritt der Landeswahlleiterin. All das hätte man allemal den eigenen Leuten, nie aber den Deutschen mit ihrer vorgeblich musterhaften Demokratie zugetraut. Der Satiriker Martin Sonneborn stöhnte öffentlich mehrfach: „Ich hoffe nur, dass Putin keine Wahlbeobachter in Berlin hatte.“
Russische Analytiker freilich sahen den Kelch schon im Sommer am Kreml vorüber gehen. Da wurde eine Kanzlerschaft der Grünen mit deren Abschwung auf schließlich nicht einmal 15 Prozent immer unwahrscheinlicher. Wäre Annalena Baerbock Kanzlerin geworden, „hätte das für Russland und die bilateralen Beziehungen sehr unglückliche Folgen haben können“, zeigte sich Maxim Jussin von der Zeitung Kommersant erleichtert. Die neue grüne Hoffnung stand für ständige Kritik an Moskau, schärfere Sanktionen und die kategorische Ablehnung der Gaspipeline Nord Stream 2. Nun habe Russland die deutschen Wahlen gewonnen – oder wenigstens nicht verloren.
„Frau Kanzlerin, auf Wiedersehen“, grüßte aus dem sibirischen Barnaul das Webportal amic.ru die vielleicht noch einige Monate amtierende Angela Merkel. Mit dem Regierungswechsel sei dann wahrscheinlich eine Veränderung der deutsch-russischen Beziehungen zu erwarten. Dmitri Solonnikow, Direktor des Instituts für moderne Staatsentwicklung, argwöhnt äußeren Einfluss von jenseits des Ozeans „vor allem durch die Grünen“. Er sieht die Juniorpartner bei den anstehenden Verhandlungen in einer vorteilhaften Position: „Ihre Bedeutung ist groß, und sie können gute Positionen aushandeln.“
Nach dem Ausfall der grünen Kandidatin fragt das politische Russland natürlich nach dem für die eigenen Interessen „besseren Kanzler“. Für Alexej Makarkin, Politologe und Vizechef des Zentrums für politische Technologie, wäre das in der Nachfolge der „eisernen Frau“ Merkel eher CDU-Chef Armin Laschet. Der habe während des Wahlkampfes zwar seine „kritische Rhetorik gegenüber Russland“ verstärkt und erkennen lassen, dass eine Annäherung an Russland nicht sehr wünschenswert sei. Aber als Kanzler hätte Laschet für die Russische Föderation als ein „ziemlich berechenbarer Politiker, der Merkels Linie fortsetzen“ würde, von Vorteil sein können.
Bei Olaf Scholz könnte es etwas komplizierter werden, präzisierte der Analytiker gegenüber der Zeitschrift Argumenty i Fakty. Die Sozialdemokraten hätten natürlich die Interessen der Wirtschaft im Blick, würden sich für Nord Stream 2 einsetzen. Scholz würde „jedoch auf keinen Fall als zweiter Schröder bezeichnet werden“ wollen und unter Druck geraten, härter gegen die Russen vorzugehen. Einen offenen Konflikt mit Russland – wie eine grüne Kanzlerin – würde er vermeiden. Es gäbe aber eine größere Unsicherheit.
Die dürfte ein Weilchen anhalten. „Die Zusammensetzung der Regierung bestimmen nicht die Granden“, vermerkte die Wirtschaftszeitschrift RBK, „sondern Parteien, die weniger Stimmen erhalten haben“. Der Sieger werde ohne Zustimmung der Koalitionspartner nicht Kanzler. Die vom Stimmenanteil immer noch eher kleinen Parteien Grüne und Liberale wollen sich ihren Kanzler selber wählen, und noch weiß niemand, wer als der meistbietende Kandidat den Zuschlag erhält.
Spannender könnte es noch werden, wenn der propagandistische Coup des FDP-Chefs Christian Linder zur Umkehrung einer Wahlbilanz auf ihn selbst zurückfällt. Bisher hält er genussvoll den gewesenen Großen jeweils rund 75 Prozent Nichtwählerschaft vor und suggeriert damit eigene Übergröße. Es könnte allerdings nach der gleichen Formel ruchbar werden, dass sogar gut 85 Prozent des aktiven deutschen Wahlvolkes nicht die Grünen und etwa 88 Prozent nicht die FDP gewählt haben. „Die Grünen spielen die erste Geige als eine Partei, die den dritten Platz belegt“, erinnerte der Politikwissenschaftler Dmitri Solonnikow in der Tageszeitung Iswestija: „Sie können in dieser Situation alles fordern, es gibt einen Sitz für den Vizekanzler, einen Sitz für den Außenminister, einige andere Ausschüsse oder einige Ministerämter.“ Jetzt hänge alles davon ab, wie viel ihnen zugestanden werde.
Niemand sollte ausschließen, dass sich die beiden Teile der bisherigen großen Koalition verärgert über unmäßige Forderungen einander wieder annähern und SPD und CDU/CSU die Sache am Ende doch wieder unter sich ausmachen. Es gibt schließlich eine Menge Posten zu vergeben, auch den des Außenministers. Wenig subtil wurde darauf von Baerbock kaum verhüllt Anspruch erhoben. Die grüne Spitzenfrau kommt schließlich nach eigenen Worten „eher ausm Völkerrecht“. Ihrem zurückgesetzten Tandempartner und treuen Weggefährten Robert Habeck bescheinigte sie nach ihrem Kandidatin-Triumph im gleichen Atemzug (herab-)lässig: „Vom Hause her kommt er … Hühner, Schweine, Kühe melken“. Nicht eben ein Beispiel feinsinniger Diplomatie.
„Mit Baerbock an der Spitze des Auswärtigen Amtes könnten die russisch-deutschen Beziehungen ihren Tiefpunkt erreichen, egal was vorsichtige Diplomaten und Politikwissenschaftler beider Seiten zu diesem Thema sagen mögen“, warnte die Njesawissimaja Gasjeta vor einer grünen Gefahr. Die Politikerin sei bekannt für ihre kritische Haltung gegenüber Russland im allgemeinen und zu Nord Stream 2 im besonderen, vermerkte Leonid Sluzki , Chef des Duma-Komitees für Außenpolitik. Wollte sie die Lieferung russischen Gases stören, geriete sie allerdings mit der deutschen Wirtschaft in Konflikt. In die Röhren sei schon ziemlich viel Geld geflossen. Alle außer den Grünen seien in dieser Frage pragmatisch, sagte Kamran Gassanow vom Expertenrat für internationale Fragen. Es sei unwahrscheinlich, dass der Betrieb der bereits gebauten Gaspipeline verhindert werden könne, vermutet die Rossiskaja Gasjeta. Aber ihre Gegner könnten durchaus mit neuen Rechtsstreitigkeiten den Start verzögern und ihre Zertifizierung behindern.
Vorsorglich erklärte Russlands Botschafter in Berlin, Sergej Netschajew, im Telekanal Rossija 24, sein Land sei zur Zusammenarbeit mit jeder künftigen deutschen Regierung bereit. Es gebe eine umfangreiche positive Tagesordnung zu Themen wie Wirtschaft, Energie, Kultur. Es sei jedoch äußerst schwer vorauszusagen, mit welcher Koalition man es zu tun bekommen werde.
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