„Sie dachten, sie seien an der Macht, dabei waren sie nur an der Regierung.“ –
Dieser Satz, der Kurt Tucholsky zugeschrieben wird, bezieht sich auf die deutsche Sozialdemokratie nach einer gewonnenen Wahl. Auch wenn Tucholsky nicht der Autor ist und dieser Ausspruch eher eine politische Erfahrung der letzten Jahrzehnte wiedergibt als die der Weimarer Zeit, so kommt hierin doch das Dilemma einer an die Regierung gelangten sozialdemokratischen Partei in einer bürgerlichen Demokratie und unter den Bedingungen der Herrschaft des Kapitals zum Ausdruck: Sie besitzt die Regierungsverantwortung, nicht aber die Macht, um ihre Ziele und ihr politisches Programm durchzusetzen. Teilt sie sich die Regierung zudem mit anderen Parteien, insbesondere aus dem bürgerlichen Lager, so verstärkt sich das Dilemma. Es bleibt kaum Spielraum für substanzielle Veränderungen, sondern lediglich für marginale Reformen.
Mitunter sogar aber nicht einmal das, wie die historische Erfahrung zeigt: In den Jahren 1998 bis 2005 praktizierte die SPD eine Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik, die nicht nur ihrem Ansehen als „linker Volkspartei“ einen enormen Schaden zufügte, sondern die sie auch einen beträchtlichen Teil ihrer Mitglieder und Anhänger kostete. Die Wahlergebnisse in den Folgejahren, worin sich ihre Stimmenanteile mehr als halbierten, belegen dies eindrucksvoll und markieren damit den politischen Abstieg der SPD. Analysen dazu, die seit 2005 in großer Zahl vorgelegt wurden, haben gezeigt, dass nicht die Globalisierung, die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Umbrüche in der Welt und schon gar nicht das immer wieder von Liberalen und Konservativen ausgerufene „Ende des sozialdemokratischen Zeitalters“ (Jürgen Habermas) allein schuld daran sind. Wesentliche Ursachen für den Niedergang der SPD liegen auch in der Partei selbst, das heißt in der praktizierten oder von ihr mitgetragenen Politik. Dabei hat sicherlich eine Rolle gespielt, dass die SPD mehr und mehr zur eigenen Tradition auf Distanz gegangen ist und dadurch ihren Kompass verloren hat. Mindestens ebenso wichtig dürfte aber auch sein, was in dem Tucholsky zugeschriebenen Zitat zum Ausdruck kommt: die Ohnmacht der Regierenden gegenüber der eigentlichen Macht. Denn die liegt bei denen, die über die Produktionsmittel verfügen, über die Wohnbauten und die Ländereien, die Aktienpakete, das Geld und anderes mehr. Wie ließe es sich sonst erklären, dass die SPD 1999 eine Steuerreform einleitete, die Unternehmen und Besserverdienende über Gebühr bevorteilte, während eine Wiederbelebung der seit 1997 ausgesetzten Vermögenssteuer ausblieb? Oder warum hat die Einkommens- und Vermögensungleichheit in Deutschland immer weiter zugenommen und sich folglich die soziale Polarisierung von Jahr zu Jahr vertieft, auch in den Jahren einer SPD-Regierungsverantwortung? Nicht zuletzt sei an die Hartz-IV-Gesetzgebung unter Kanzler Gerhard Schröder (SPD), die eine neoliberale Zäsur in der Sozialgesetzgebung der Bundesrepublik bedeutete, erinnert.
Damit soll selbstredend nicht behauptet werden, dass unter einer CDU/CSU/FDP-Regierung eine sozial ausgeglichenere und weniger polarisierende Politik zu erwarten gewesen wäre. Ganz im Gegenteil! Bemerkenswert ist aber, dass die Differenz zwischen einer konservativ-bürgerlichen und einer sozialdemokratischen Politik im Zeitverlauf immer geringer geworden ist! Dies könnte sich nach diesem Wahlsieg vielleicht wieder ändern, wenn die SPD ihre Regierungsverantwortung und die dadurch möglich werdenden Gestaltungsoptionen dahingehend nutzen würde, sich wirkliche Macht zu verschaffen. Die wichtigste Basis dafür wären entsprechende Eigentumsrechte. Solche sind vom Staat in der Vergangenheit durch Privatisierungsmaßnahmen (von Betrieben der Energie- und Wasserversorgung, im Verkehrs-, Gesundheits- und Bildungswesen, in der Forschung, der Logistik, dem Wohnungsbau und der Kultur) aus der Hand gegeben worden. Dies wäre nun durch geeignete Vergesellschaftungsmaßnahmen, welche keineswegs auf Enteignungen zu reduzieren sind, aber solche auch nicht kategorisch ausschließen sollten, zu korrigieren. Mindestens ebenso wichtig wäre eine sozial und ökologisch ausgerichtete Verteilungs-, Wirtschafts- und Finanzpolitik, die nicht die Gewinn- und Vermögensakkumulation der Unternehmen in den Fokus stellt, sondern die Versorgung und den Wohlstand der Bevölkerung.
Dies alles steht natürlich im Programm der SPD. Aber wird sie es auch umsetzen (können)? Oder werden wir eine Neuauflage der Regierungspolitik von 1998–2005 erleben? Nach sechzehn Jahren CDU/CSU-Dominanz sind die Hoffnungen auf eine andere Politik groß, die diesbezüglichen Befürchtungen aber auch. Und diese sind nicht unbegründet. Zumal die politischen Mehrheitsverhältnisse nach der Bundestagswahl, ungeachtet des Wahlerfolgs der SPD, nicht unbedingt für eine Richtungsänderung sprechen. Man beachte, der „rechte“ Block aus CDU/CSU, FDP und AfD konnte bundesweit (ohne die sonstigen Parteien) rund 46 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinigen, während SPD, B’90/Grüne und Linke zusammen auf gut 45 Prozent der Wählerstimmen kommen. Da unter diesen Bedingungen ein „linkes“ Regierungsbündnis nicht möglich ist, wird eine Koalition unter Führung der SPD und einem Kanzler Olaf Scholz, egal wie sie zusammengesetzt ist, immer eine mehr oder weniger bürgerliche Regierung sein. Und selbst das ist nur der Tatsache geschuldet, dass es die politischen Differenzen zwischen den bürgerlichen Parteien derzeit nicht erlauben, dass das „rechte“ Lager eine Regierungskoalition bildet. Es wäre daher fatal, würde man aus dem Wahlsieg der SPD und dem Stimmenverlust einiger anderer Parteien auf eine Machtverschiebung in der bundesdeutschen Gesellschaft und Politik schließen. Eine solche ist beim besten Willen derzeit nicht auszumachen. Was wir nach der Wahl sehen, deutet eher auf eine Kontinuität in grundsätzlichen Fragen hin.
Schlagwörter: Demokratie, Kurt Tucholsky, Politik, Sozialdemokratie, Ulrich Busch