Diesmal: Castorf, Kosky – zwei Regie-Großmeister im Berliner Ensemble mit „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“ (nach Erich Kästner) und „Die Dreigroschenoper“ (von Bertolt Brecht, Kurt Weill, Elisabeth Hauptmann).
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Kurz vor Mitternacht. Nach fast fünf dröhnenden und keuchenden Stunden hält das entfesselte Castorf-Theater für einen Moment die Luft an: Ein Mann und eine Frau verharren frierend, aneinander Schutz suchend und nackt, wie Gott sie geschaffen hat, im kalten Licht einer irrwitzigen Welt.
In diesen langen, unvergesslichen Sekunden ist der Regisseur Frank Castorf mit seiner ansonsten gigantisch ausufernden, weitschweifenden Paraphrase auf Erich Kästners eher nüchtern kapitulierten Berlin-Roman „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“ für zutiefst anrührende Augenblicke ganz bei sich.
Die Welt, gemeint ist ja mehr als bloß die mit Karacho untergehende Welt der Weimarer Republik vor dem Sturz ins Nazistische, die Welt also scheint blindwütig mit einem besinnungslos gierigen Tanz auf dem Vulkan vor die Hunde zu gehen. Doch einzelne – hier ein sich aneinander klammerndes Menschpaar –, die stehen vor uns: ganz und gar frei, wie verlassen von allen Göttern und Geistern, ratlos, staunend, stumm.
Was für ein überwältigendes, archaisches Bild. Und was für ein eindringlich fragendes Statement; was für ein Zwiespalt, eigentlich seit Menschengedenken: Gibt es noch Hoffnung? Hat noch Vernunft eine Chance? Oder ist schon alles im Orkus?
Oder dreht sich alles immer aufs Neue im Kreis?
Bei Erich Kästner gibt es kein „oder“. Nicht in der zensierten Erstfassung von „Fabian“ 1931. Und schon gar nicht in der kompletten, das Welten-Chaos sehr viel krasser demonstrierenden Edition von 2013. Und eben auch nicht in diesem das Krasse furios breitwalzenden Fünfstunden-Abend der seit drei Jahrzehnten angesammelten, jetzt nochmals erregt aneinandergereihten Castorf’schen Inszenierungsideen und Schreckensbilder menschlicher Deformationen.
Es sind die Exzesse des Kaputten, des Ekels, der Brutalo-Egos, der Penis-Spreizerei, Vögelei und Gewalt (von Liebe keine Rede). Es ist die Rutschpartie auf dem ikonografischen Kartoffelsalat, sind die Koksereien und blutigen Kloppereien, Saufereien, Küsse und Bisse bis hin zu Mord, Folter, Totschlag, und noch dazu die endlos kreischenden Redeschlachten und grotesken breitwalzenden ؘؘ– alles schon gesehen. Mal mit großer Lust, mal mit ebensolchem Frust. Alles längst verinnerlicht.
Auch wenn dabei der Plot der Story roh zerkloppt oder fein zerschlagen wurde vom emsig bewegten Hammer der Dekonstruktion. Und noch dazu die Fülle der Assoziationsketten, Anspielungsgirlanden, Filmzitate; hier: „Kuhle Wampe“ nebst Schwarz-Weiß-Dokumenten aus dem Milljöh. Oder die Fremdtexte; hier Chamissos Geschichte vom Schlemihl, der seinen Schatten verkauft, sowie Verse von Baudelaire im französischen Original und sogar Privatkorrespondenzen (Beziehungsknatsch!) des Regisseurs. Gefordert sind also – wie immer, so auch jetzt wieder – fortgeschrittene Kenntnisse in Kultur-, Philosophie-, Kunst-, Literatur-, Film- und Popgeschichte. Und Szene-Insiderwissen.
Der ewig Castorf’sche Furor, er zieht uns hinan. Wer nicht mitzieht, hat Pech. So einfach ist das. So toll und so unmöglich. So hochmögend.
Also Kästner höchstens als Stichwort-Lieferant, was wiederum einigermaßen passt. Ist doch sein Text, so der Autor selbst, kein Roman. Vielmehr ersetzt ein Kompendium von Episoden „Handlung“.
Doch wer, auch das wie immer, zuvor nicht brav gelesen hat, versteht selbst die Episoden kaum – dafür den Rausch.
Für die Höllenfahrt der beiden Freunde Fabian (Marc Hosemann, der so schön Heinz Rühmann oder Hans Moser imitieren kann) und Labude (Andreas Döhler, raubeinig und erpicht auf Puff) baute der ingeniöse Bühnenbildner Aleksandar Denic ein grellbuntes Berlin-Babylon-Karussell mit Nachtklub-Tresen, Bordell-Buden, Metzger-Laden, Schlafküchen-Zelle und natürlich Video-Wänden. Ein verschachtelt aufgetürmtes Pandämonium effektvoll auf die unermüdlich kreisende Drehbühne gewuchtet; besetzt mit einem furiosen Ensemble – herausfordernd glamourös die Weiblichkeit in Straps und Stiletto-Pumps –, das im Hochleistungssport schwitzend bis an den Rand der Erschöpfung getrieben wird. Wie auch das Publikum.
Doch da ist ja noch, kurz vor Schluss der bösen, schwarz-gerahmten Show vom ewig krampfenden Geschlechter- und Überlebenskampf, der Augenblick der Stille mit diesem Menschen-Denk-Mal. Diesem schweigenden Paar, das zwingend auf uns schaut…
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Noch eine letzte halbe Stunde, dann soll er hängen. Doch zuvor: die Henkersmahlzeit. Also fragt Polizeichef Brown nach Mackies Gelüsten. Der Obergangster will Spargel. Seiner Ansage folgt, eine halbe Stunde vor Schluss dieser „Dreigroschenoper“, noch einmal eine für Barrie Koskys Inszenierung so typische, atemberaubende Szene zwischen zwei nicht nur durch Korruption ineinander verschlungene Figuren … – Aus der Tiefe der Bühne heraus karrt Brown in gespenstischer Stille auf einem grausam quietschenden Wägelchen das Gemüse. Kathrin Wehlisch, in gebückter Trauer, steif und gar nicht tigernd, dafür beständig auf Lauer, schmächtig, schmallippig, mit aasiger Knarzstimme, füttert verdruckst liebevoll ihren unterm Strang schlotternden Mackie Messer (Nico Holonics). Bis beide – Tränchen weggewischt – sich in die Haare kriegen. Es geht um Geld. Natürlich. Um Schmiergeld. Und auch jetzt noch um Macht. Und so wechseln im Sekundentakt schwüle Sentimentalität mit eisiger Ernüchterung, grotesker Ernst mit verrückter Komik.
Solch subtil inszenierten, präzise ausgespielten Zweier gibt es an diesem so betörend poetischen wie verstörend zynischen Abend am laufenden Band. – Da wäre die Führung der Bettlermafia, das peitschenknallende Ehepaar Peachum Constanze Becker & Tilo Nest. Oder die sexuellen Hörigkeiten, von denen die Peachum im geilen Pelz mit feschem Hut so herrlich raunt und röhrt, derweil Mackie sie schamlos auslebt mit Polly (Cynthia Micas), mit Jenny (Bettina Hoppe), mit Lucy (Laura Balzer).
Gerade in den Weillschen Welthits, diesem funkelnden Mix aus Avantgarde, Populärem, Parodistischem, der aus Brechts bittersüß-bitterbösen Texten weht, stürzt, knallt, erspürt Kosky bislang unerhörte zwischenmenschliche Dramen, Komödien, Farcen – meist glühen sie nur ein paar Takte oder Buchstaben voneinander entfernt. Sonderlich aufregend das Liebesgeständnis der grandiosen Bettina Hoppe als Spelunkenjenny, bevor sie ihren Mackie für Zaster an die Polizei verrät – mehr als ein Hauch von Tragik.
Dazu die Bühne in schwarz-weiß-grau von Rebecca Ringst mit sinnfälligem Symbol: einem beweglichen, scharfkantig sich auftürmenden, gefährlich verwinkelten Klettergerüst – der Großstadtdschungel, das Haifischbecken, der Weltirrwitz. Verhangen mit glitzrigen, kontrapunktisch zum nervenkitzeligen Geschehen sich hebenden oder senkenden Lamettagardinen. Die annoncieren kein hitziges Showbiz – eher Kühle, in der die verquirlten konträren Gefühle auf- oder abgekocht werden.
Barrie Kosky, Chef der Komischen Oper und innovativer Spezi für Operette und Musical, sinnenfroh wie Castorf, doch mit deutlich konzentrierterer Werktreue als sein fatalistischer Kollege, weiß freilich (wie Castorf auch) nur zu gut, dass im vermeintlich leidenschaftlich lieb Kulinarischen das nicht gar so lieb Egomanisch-Exzessive der Gattung Mensch steckt. Und so ignoriert er all die üblich lehrstückhaften, kapitalismuskritischen, moralisierend parabelhaften, mit V-Effekten dekorierten „Dreigroschenoper“-Verpackungen nicht, sondern hebt sie souverän auf in den ewigen schlimmen Geschichten mit den Menschen, mit uns Haifisch-Menschen in diesem Klassiker der Moderne.
Was wiederum das Tolle, gerade nicht zeigefingernd Gegenwartstolle ist an diesem Musiktheater. Eben, dass jene uralten Geschichten vom Beißen und Gebissenwerden so schlagend amüsant, frisch, abgründig und packend erzählt werden (auch im Slapstick und Comic). Wow! Das dürfte dem BE mit seinen Stars und seinem mal zart, mal ätzend, mal ironisch süffig oder wuchtig aufspielenden „Dreigroschenoper“-Orchester unter Adam Benzwi Gastspiele weltweit einbringen.
Und dem Chef des Love-and-Crime Spektakels den hübschen Titel „Schauspieler des Jahres“. Denn Nico Holonics, dieser agile Berserker, gibt einen verführerisch ruchlosen Schwerenöter mit Lust auf Clown, einen dreisten Engel und schwitzenden Höllenhund, der mit Weibern und Gangstern aller Art, mit Gott und Teufel tanzt. Aber mit Messer im Maul.
Schlagwörter: Barry Kosky, Berliner Ensemble, Dreigroschenoper, Erich Kästner, Frank Castorf, Reinhard Wengierek, Theaterberlin