Die Taliban sind nicht die nordvietnamesische Armee.
Sie sind nicht im Entferntesten vergleichbar in Bezug
auf ihre Fähigkeiten. Es wird keinen Umstand geben,
wo man Menschen vom Dach der Botschaft
der Vereinigten Staaten […] abheben sehen wird.
Jo Biden, US-Präsident, am 8. Juli 2021 vor der Presse im Weißen Haus
Nicht der Abzug war falsch,
sondern der Krieg.
Malte Lehming, Der Tagesspiegel, 10.08.2021
Was die Geschichte wirklich lehrt, ist,
dass aus Geschichte nichts gelernt wird.
Anonym
Das Finale der 20 Jahre währenden Militärintervention des Westens am Hindukusch sei, so Unionskanzlerkandidat Armin Laschet, das „größte Debakel, das die NATO seit ihrer Gründung erlebt hat“. Von rund 3600 Toten aufseiten der US-geführten Interventionskräfte, darunter 59 Bundeswehrsoldaten, war in den Medien zu lesen. Von den Opfern auf afghanischer Seite war in der Regel nicht die Rede. Die hat die Neue Zürcher Zeitung am 17.08.2021 auf Hunderttausende beziffert und der Herausgeber der Berliner Zeitung, Michael Maier, einen Tag später auf 240.000 konkretisiert. – Die finanziellen Verluste der Steuerzahler der USA sollen sich auf insgesamt 2,7 Billionen US-Dollar summieren; rund 83 Milliarden davon wurden allein in Ausbildung und Aufrüstung des afghanischen Militärs gesteckt. Die bundesdeutschen Steuerzahler waren mit „nur“ 17 Milliarden Euro mit von der Partie.
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Die dramatischen Fotos von Massen von Zivilisten, die angesichts der widerstandslos in Afghanistans Hauptstadt Kabul einrückenden Taliban verzweifelt flüchten, und von amerikanischen Hubschraubern über der Stadt wie 1975 über Saigon waren noch ganz frisch, da machten bereits forsche Anmahnungen und Selbstverpflichtungen in Sachen Aufarbeitung die Runde:
- „Afghanistan ist die größte Niederlage der USA seit Vietnam“, hieß es bei Politiken aus Kopenhagen. „Und so wie die Niederlage in Vietnam zu einem Umdenken in der US-Außenpolitik führte, muss die Niederlage in Afghanistan sowohl die USA als auch ihre Verbündeten dazu bringen zu überdenken, was mit einer militärischen Intervention erreicht werden kann.“
- Im Hinblick auf internationale Einsätze müsse man sehr genau darüber nachdenken, was realistische Ziele seien, ließ sich Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer vernehmen.
- Bei der NATO müssten „Lehren […] gezogen“ werden, so Jens Stoltenberg, Generalsekretär des Paktes.
Solche Stimmen sind allerdings im besten Falle lebensfremd oder Symptom von Selbstbetrug und im schlimmeren bereits der nächste Akt bewusster Täuschung der Öffentlichkeit durch verantwortliche Akteure und diesen nahestehende Medien.
Denn es genügt doch allein ein Blick in die Geschichte militärischer Interventionen auf fremden Territorien und gegen den sofortigen oder sich im Laufe der Zeit entwickelnden bewaffneten Widerstand der dortigen Bevölkerung, zumindest signifikanter Teile davon, um auf die andauernde historische und damit quasi zwangsläufige Erfolglosigkeit solcher Unterfangen zu stoßen.
Natürlich kann eine militärische Großmacht auf einer winzigen Karibikinsel wie Grenada (knapp 40 Prozent der Fläche Berlins) eine missliebige Regierung durch eine militärische Besetzung aus dem Verkehr ziehen, wie es die USA 1983 taten. Auch kann man sich in einem flächenmäßig kleinen Staat wie Panama eines in Misskredit geratenen früheren Verbündeten (des damaligen Präsidenten Manuel Noriega) mit einer handstreichartigen Luftlandeoperation bemächtigen, um ihn zu Hause hinter Gitter zu bringen, was Washington 1989 gelang. Selbst ein größerer einheimischer Aufstand kann durch ausländische Besatzer niedergeschlagen werden, wenn deren Führung bereit ist, einen Großteil der aufmüpfigen Bevölkerung einfach zu Tode zu bringen – entweder durch direktes Abschlachten oder durch verhungern lassen –, also nach heutigen Maßstäben Völkermord zu begehen, wie es das kaiserliche Deutschland Anfang des 20. Jahrhunderts im heutigen Namibia vorexerzierte. Doch beinahe immer, wenn Insurgenten mit Rückhalt im Volk sich auf einem größeren Territorium mit zum Guerillakrieg geeigneten natürlichen Gegebenheiten (Wälder, Dschungel, schwer zugängliche Gebirgsregionen und dergleichen mehr) entfalten konnten, fiel das Resultat von David gegen Goliath so aus wie in der Bibel.
Diese Lektion erlitt England in seinen nordamerikanischen Kolonien schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts ebenso wie das bonapartistische Frankreich Anfang des 19. in Spanien und Spanien selbst anschließend in seinem südamerikanischen Kolonialreich sowie einige Jahrzehnte später das Frankreich Napoleons III. in Mexiko. Dazwischen, 1842, wieder die Engländer, erstmals in Afghanistan – Fontanes Ballade „Das Trauerspiel von […]“ endet mit der Zeile „Einer kam heim aus Afghanistan.“. Dann, 1880, ebenfalls London und schon wieder in Afghanistan, wo weitere knapp 40 Jahre später, 1919, der dritte erfolglose Versuch der Briten schließlich mit der provisorischen Anerkennung Afghanistans als souveräner und unabhängiger Staat endete.
Nach 1945 riss die Kette bis in die 1980er Jahre praktisch gar nicht mehr ab – beginnend mit den Niederlanden in Indonesien, gefolgt von Frankreich – erst in Indochina, dann in Algerien –, von Großbritannien in Kenia sowie von den USA in Vietnam, die dort nicht mal mit dem barbarischen Versuch zum Erfolg kamen, das Land in die Steinzeit zurück zu bomben (so US-General Curtis LeMay) – zum Einsatz kamen 2,5 Millionen Tonnen Bomben, mehr als im gesamten Zweiten Weltkrieg. Portugal in Angola und Mosambik sowie die Sowjetunion – in Afghanistan – komplettieren diese Aufzählung desaströs gescheiterter Interventionsmächte, die im Übrigen keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt.
Lehren wurden zwar in dem einen oder anderen Falle durchaus gezogen, doch nur im Hinblick darauf, wie man es beim nächsten Mal militärisch besser machen könnte. So war es auch nach Vietnam in den USA. Militärinterventionismus als solcher, als Mittel der Politik, ist nie grundsätzlich infrage gestellt worden.
Die entsprechenden historischen Verläufe samt Ursachen und Wirkungen sind den jeweils nachwachsenden Generationen politischer und militärischer Eliten und Entscheider allerdings von jeher nicht systematisch vermittelt worden, denn Geschichte wird nicht nur für solche Kreise traditionell und vornehmlich über Siege und andere Erfolge geschrieben und weitergegeben.
Andererseits sind die entsprechenden historischen Sachverhalte und Vorgänge aber kein Geheimwissen. Doch wie hätte etwa ein Bundesverteidigungsminister wie Peter Struck (SPD), von dem der vielleicht dümmste Rechtfertigungsversuch zum deutschen Mittun im Afghanistan-Krieg stammt (2014: „Unsere Sicherheit wird nicht nur, aber auch am Hindukusch verteidigt.“), darauf kommen sollen, die richtigen Fragen zu stellen? Der Mann war westdeutsch sozialisiert, promovierter Jurist (zum Thema „Jugenddelinquenz und Alkohol“) und im Übrigen ein Kumpeltyp aus Uelzen. Und seine Entourage im BMVg bestand im Wesentlichen aus Militärhandwerkern, denen entsprechendes Nachdenken und Nachfragen in ihrer beruflichen Ausbildung ebenfalls nicht gerade in die DNA gestanzt worden war … Wollte man dergleichen Defizite künftig vermeiden, müsste man Sozialisierung und Heranbildung des jeweiligen Nachfolgepersonals grundlegend ändern. Kann dergleichen von der heutigen politischen Elite der Bundesrepublik realiter erwartet werden? Oder von sonst wem?
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Vielleicht würde eine Initialzündung durch die Vierte Gewalt, die im Fachjargon die publikative genannt wird, also durch die Medien, helfen? Doch diesbezüglich mache man sich besser nur wenig Hoffnung. Hierzulande sind schon länger überwiegend Medien und Macher derselben am Werke, die in den Tagen unmittelbar nach dem Fall von Kabul am 15. August 2021 teils mit fetten Überschriften und durchweg im Brusttone nun ganz brandneuer Erkenntnisse die Öffentlichkeit unter anderem über folgendes ins Bild gesetzt haben:
- „In Wahrheit werden unsere Werte schon dadurch verraten, dass man sie mit vorgehaltener Maschinenpistole durchzusetzen versucht. Auf Kuba. In Vietnam. Im Iran. Im Irak. In Angola. In Nicaragua. […] Wir haben nicht die Afghanen verraten. Viel schlimmer: Wir haben uns selbst verraten. Nicht dadurch, dass wir gehen, sondern dadurch, dass wir im Militärrock gekommen sind.“ (Gabor Steingart, Ex-Chefredakteur und -Herausgeber des Handelsblattes, 16.08.2021)
- „Der Afghanistan-Krieg war von Anfang an ein rechtswidriges Unterfangen. Im Laufe des Kriegs gab es zahllose Menschenrechtsverletzungen, es war ein schmutziger Krieg. Der österreichisch-afghanische Journalist Emran Feroz schreibt: ‚Die Gewaltexzesse der westlichen Militärmächte kommen wie ein Bumerang zurückgeflogen.‘ Ungesetzliche Hinrichtungen, Tötungen mit Drohnen, nächtliche Razzien, keine Rücksicht auf Zivilisten – die Besatzer haben niemanden geschont. Einer der Anführer der Taliban, die nun die Macht übernehmen, war in Guantanamo.“ (Maier, 17.08.2021)
- „Je mehr Menschen umgebracht werden, desto mehr Leute schließen sich radikalen Gruppen an, vor allem, wenn es so viele Tote unter den Zivilisten gibt.“ (Maier, die US-Politologin Neta Crawford zitierend, 18.08.2021)
- „‚Ein Totalversagen der Bundesregierung‘, sagt ein ehemaliges SPD-Regierungsmitglied […]. Sein Fazit: ‚Es ist für mich unvorstellbar, dass Heiko Maas im Amt bleiben kann.‘“ (Steingart, 18.08.2021. Und um gar nicht erst missverstanden zu werden: Maier und Steingart fungieren hier lediglich pars pro toto!)
Bloß – das sind durchweg alte Hüte, den Schreibern vermutlich lange bekannt, die bloß in den Vorjahren nicht oder allenfalls hin und wieder, respektive zwischen den Zeilen thematisiert wurden. Alles hier Zitierte hätte jedoch spätestens bereits dann auf den Tisch des Hauses gehört, als sich das Scheitern der anfänglichen westlichen Afghanistan-Operation mit der ebenso bombastischen wie irreführenden Bezeichnung „Enduring Freedom“ („Freiheit für immer“) abzeichnete, die Ende 2014 offiziell beerdigt wurde. Und ein vergleichbar kritischer Impetus, wie er sich seit dem Fall von Kabul überall wohlfeil aus der Deckung wagt, müsste im Hinblick auf auswärtige Militäreinsätze zur Grundausstattung von Medien und deren Machern, zum permanenten Grundrauschen ihrer Berichterstattung gehören, soweit diese politischen Journalismus (überhaupt noch?) als Verfassungsauftrag begreifen.
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All dies kann natürlich nur von einem weltfernen Idealisten – das sind die, die keinen blassen Schimmer von Außen- und Sicherheitspolitik, von Militär, Strategie und Taktik sowie Terroristenbekämpfung haben und ebenso wenig von modernen Medien, von Wettbewerb, Quoten, Vermarktung und digitaler Echtzeitinformation verstehen – in seinem Elfenbeinturm formuliert und zu utopischen Schlüssen geführt werden.
Völlig richtig!
Und deshalb erfordert es letztlich keinerlei prophetische Gabe und geht mit wenig Risiko einher, falsch zu liegen, wenn man einfach davon ausgeht: Selbst dieses Mal wird sich wieder alles ändern, wie es war.
P.S. – mit seinen Illusionen steht der Autor allerdings nicht völlig allein auf weiter Flur: „[…] noch grundlegendere Fragen müssen auf den Tisch. Nach dem verpatzten Impfstart und dem unzureichend funktionierenden Katastrophenschutz bei der Flut ist das Desaster von Kabul das dritte Mal in wenigen Monaten, bei dem auch wohlwollende Bürger ein Staatsversagen zu erleben glauben. Wir brauchen eine Debatte darüber, wie Personal für politische Spitzenämter rekrutiert wird.“ (Robin Alexander, stellvertretender Chefredakteur, DIE WELT, 19.08.2021)
Schlagwörter: Afghanistan, Aufarbeitung, Intervention, Kabul, Lehren, Medien, Militär, Sarcasticus, Taliban, Vietnam, Westen