Donald Tusk ist wieder Parteivorsitzender – in Polen. Künftig wird er die von ihm einst mitgegründete Bürgerplattform (PO) führen, die stärkste Oppositionspartei, die zugleich den Löwenanteil der Abgeordneten stellt in der Bürgerkoalition (KO), der stärksten Oppositionskraft im Sejm. Vor 20 Jahren waren im bürgerlichen Spektrum aus der Konjunkturmasse gescheiterter Gruppierungen, die sich allesamt dem „Solidarność“-Ethos verpflichtet gefühlt hatten, zwei neue Parteien gegründet worden, die wenig später ab Herbst 2005 das politische Geschehen in Polen entscheidend bestimmen sollten – zum Beispiel seither alle Ministerpräsidenten und Staatspräsidenten stellen. Den konservativ-liberalen Part nahm die PO ein, die nationalkonservative Flanke prägte die von den Kaczyński-Brüdern angeführte Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS). Zu einem ersten unmittelbaren Kräftemessen der Führungsspitzen kam es bei den Präsidentschaftswahlen im Oktober 2005, die Tusk knapp gegen Lech Kaczyński verlor. Tusk revanchierteEU sich auf seine Art zwei Jahre später im Herbst 2007, als er bei vorgezogenen Parlamentswahlen Jarosław Kaczyński schlagen konnte.
Aus dem anfänglichen Konkurrenzverhältnis, das trotz aller aufgeladenen Schärfe immer noch im Rahmen geduldigen parlamentarischen Spiels blieb, wurde ein kaum für möglich gehaltener und auf offener Bühne ausgefochtener Prinzipien-, ja Bruderkampf, nachdem Jarosław Kaczyński zu behaupten anfing, Tusk habe Blut an den Händen, habe gemeinsam mit Wladimir Putin seinen Zwillingsbruder Lech Kaczyński auf dem Gewissen, der im April 2010 als amtierender Staatspräsident in Smolensk bei einem Flugzeugunglück das Leben verlor. Lange Zeit konnte Ministerpräsident Tusk die nationalkonservative Opposition in den Schranken halten, sein größtes Faustpfand schien die wirtschaftliche Entwicklung und vor allem die EU-Mitgliedschaft zu sein. Selbst auf dem flachen Land konnte die Kaczyński-Partei noch nicht den entscheidenden Boden gewinnen, der in den prosperierenden Großstädten immer mehr verlorenging.
2014 ging Tusk überraschend nach Brüssel, nachdem er zum Präsidenten des Europäischen Rates gewählt wurde. Die dramatischen Entwicklungen im Folgejahr – die Griechenlandkrise, die die Gemeinschaftswährung Euro unter Druck brachte, und die Flüchtlingskrise, die in einem riskanten Alleingang Angela Merkels mündete – waren noch nicht abzusehen. Doch dann hatte Jarosław Kaczyński genügend Wasser für seine nationalkonservativen Mühlen, die mit Stichworten wie nationale Souveränität und Identität, wie die gefährdeten Grundlagen christlicher Zivilisation bestens umzugehen wussten. Als sich schließlich die katholische Kirche ohne Wenn und Aber hinter die Nationalkonservativen stellte, als außerdem genügend sozialpolitischer Zucker angerührt wurde, war der Damm gebrochen, war die politische Dominanz der einstigen Tusk-Partei nur noch Geschichte. Das EU-Gefüge hatte zwar einen überzeugten und verlässlichen „Europäer“ aus einem der 2004 beigetretenen Länder an seine Spitze geholt, doch dessen Heimatland driftete plötzlich ab – aus dem Musterknaben wurde nach 2015 zunehmend ein Problemkind. Und die Kaczyński-Medien behaupteten nun fortwährend, Tusk sei eigentlich immer nur Deutschlands Stellvertreter in Polen gewesen, habe jedenfalls nie polnische Interessen im Sinn gehabt.
Die Hoffnungen der Opposition, die Scharte von 2015 bei künftigen Wahlen wettzumachen, erfüllten sich weder 2019 noch 2020. Auch wenn die Kaczyński-Partei weit von den selbstgestellten und großspurigen Zielen entfernt blieb, die entscheidenden Hebel der Macht behielt sie in der Hand. Zuletzt kam es genau vor einem Jahr zur Entscheidung um das Präsidentenamt, wobei Amtsinhaber Andrzej Duda seinen Posten denkbar knapp vor dem durch und durch liberalen Herausforderer Rafał Trzaskowski verteidigen konnte. Trzaskowskis durchaus erfolgreiche Kampagne verdeutlichte aber, wie sehr sich die PO seit ihren Gründungszeiten verändert hatte, denn im Grunde hat die Entwicklung seit 2015 auf den harten Oppositionsbänken zu einer eindeutigen Stärkung des liberalen Flügels, zu einer deutlichen Schwäche gemäßigt konservativer Positionen geführt. So entstand plötzlich an dieser freiwerdenden Flanke eine außerparlamentarische Herausforderung unter der zukunftsmeinenden Marke „Polen 2050“, die von dem agilen Fernsehmenschen Szymon Hołownia angeführt wird. Zeitweise lag diese Gruppierung in Umfragen sogar vor der PO, Hołownia warf den Fehdehandschuh, sammelte fleißig abtrünnige Abgeordnete der Bürgerlichen, forderte im Grunde eine völlige Neujustierung im bürgerlichen Oppositionslager. Auch deshalb kam Tusk zurück, denn die gewohnte Hackordnung im Oppositionslager soll wiederhergestellt werden.
Am wichtigsten allerdings ist wohl die EU-Dimension, denn Tusk hat sich nicht weniger auf die Fahne geschrieben als die Verteidigung der EU-Mitgliedschaft des Landes. Die Gefahr bestehe nämlich, dass Jarosław Kaczyński mit seinem riskanten Kurs und seiner Behauptung, konsequent und unbeirrt die Grundpfeiler der westlichen, also der christlichen Zivilisation zu verteidigen, die Grundlagen der Mitgliedschaft selbst aufkündige und das ganze Land an den Rand des Abgrunds führe. Schaut man genau hin, so ist diese Warnung gar nicht einmal von der Hand zu weisen. Die Rückkehr von Tusk nach Polen hat in jedem Fall eine starke europäische Dimension.
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