Es war sicher bloß eine Frage der Zeit, bis sich die Rechtspopulisten im deutschen Parlament das Gendern vornehmen und ein entsprechendes Verbot für den Sprachgebrauch von Behörden fordern würden. Man darf davon ausgehen, dass das kleine parlamentarische Vorfeierabendgeplänkel, das sich daraufhin im Plenum entspann, wohl nicht das letzte Wort dazu gewesen sein dürfte.
Für all die anderen Kritiker der übers Land rollenden Sprachanpassungen gibt es allerdings Hoffnung.
Bernd Stegemann und Sahra Wagenknecht haben mit ihren jüngsten Büchern diskurstaugliche, streitbare Analyseansätze und Argumentationshilfen geliefert. Sie kommen nicht nur ohne rechten Populismus aus, sondern machen den gleich noch als dunkle Kehrseite des Ganzen dingfest. Dass linke Kritiker der Auswüchse beim Gendern, „linker“ Identitätspolitik und Cancel Culture mit ihren eigenen politischen Gesinnungsgenossen aneinandergeraten, macht sie in der Debatte glaubwürdiger. Sahra Wagenknecht etwa gehört zu den profiliertesten Köpfen ihrer Partei Die Linke. Dass dort jetzt der Parteiausschluss der Autorin der „Selbstgerechten“ betrieben wird, hat dialektischen Witz, denn es bestätigt ihre Analyse.
Bernd Stegmann hat es da als Dramaturg am Berliner Ensemble und Professor an der Hochschule für Schauspiel „Ernst Busch“ etwas komfortabler. Mit dem Theater ist er allerdings in einem Bereich zu Hause, in dem sich die Debatte um Identitäten verschiedener Provenienz und die Artikulation von gefühlter Betroffenheit – über den berechtigten Widerstand gegen Übergriffigkeiten oder Unsitten des Machtgebarens hinaus – soweit erhitzt hat, dass sie – als historische Novität – die Freiheit der Kunst aus dem Bereich der Kunst heraus angreift und gefährdet. Kein Weißer dürfte danach mehr Othello spielen und der kleine Mohammed im „Rosenkavalier“ nicht mal mehr sich selbst. (Dass diese Verwechslung von Sein und Spiel im Umkehrschluss in der Konsequenz für nicht weiße Sänger oder Schauspieler zu einem neuen Rassismus, was die Besetzung „weißer“ Rollen betrifft, führen müsste, wird dabei übersehen.)
Der Titel von Stegmanns jüngster Streitschrift „Die Öffentlichkeit und ihre Feinde“ kokettiert sicher nicht von ungefähr mit Karl Poppers „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ aus dem Jahr 1945. Stegemann wirft sich damit erneut ins Getümmel einer zunehmend verbissener geführten Auseinandersetzung, die in bestimmten „Blasen“ Züge eines Kulturkampfes angenommen hat. Es geht um die kulturellen Usancen des Umgangs in einer immer mehr auseinanderdriftenden Gesellschaft. Die Öffentlichkeit als demokratisches Forum der Kommunikation, ihre Widerstandskraft gegen die Wucht neoliberal forcierter Vereinzelung in den expandierenden, kaum einer Regulierung unterliegenden sozialen Medien ist dabei ebenso zum Gegenstand der Debatte geworden wie das zugrundeliegende Denken und das daraus folgende gesellschaftlich relevante Handeln.
Stegemann ergreift dabei Partei für die Seite, auf der er Vernunft und Maß im Streit um Binnen-I oder -Sternchen, um Cancel Culture und Identitätspolitik verortet. Er hält vor allem daran fest, dass zwischen materiellen Tatsachen und deren Widerspieglung in der Sprache sowie den Diskursen darüber eine Wechselbeziehung besteht. Die schließt ein, dass sich die Umwälzungen in den Kommunikationsformen in einer Weise Geltung verschafft haben, die auf diese Realität zurückwirken. Im Sinne eines gewollten Wandels – zum Beispiel in Frage von Gleichberechtigung der Geschlechter, der sexuellen Orientierungen oder von Partizipation. Auf der anderen Seite aber auch im Sinne eines Frontalangriffs auf die Evidenz des Faktischen, ja auf das Erbe der Aufklärung. Inzwischen bis hin zur Proklamation einer US-Präsidentschaft durch Donald Trump im Reich der alternativen Fakten, nach seiner Wahlniederlage 2020.
Stegemann plädiert beherzt und oft blitzgescheit argumentierend, mitunter aber auch offenkundig „genervt“ von diversen Auswüchsen für die Akzeptanz von Realitäten und deren Veränderung auf dem Wege eines immer wieder auszuhandelnden Konsenses. Hier fordert er in seiner Argumentation (im Unterschied zur immer glasklar und nachvollziehbar schreibenden Sahra Wagenknecht) seine Leser mit dem Rückgriff auf Theorieansätze, wie den von Niclas Luhmann, heraus. Auf diesem Weg versucht er vor allem dem Problem wachsender Komplexität beizukommen, ohne sich mit eigener, radikaler Vereinfachung weg zu ducken.
Den Angriff auf eine funktionierende Öffentlichkeit führen jedoch nicht nur „rechte“ Populisten, bei denen die Rückabwicklung von Aufklärung und Moderne auf der politischen Agenda eines Umbaus der Gesellschaft stehen. Gefahr erwächst auch durch Aktivistenvehemenz, die der rabiaten Durchsetzung von partikularen Minderheitsinteressen gegenüber der Funktionsfähigkeit jeder gesellschaftlichen Plattform für Debatten und Kompromissfindung Priorität einräumen. Stegemann spricht von den identitätspolitischen Empörungswellen des 21. Jahrhunderts, die bis zur Selbstzerstörung der Öffentlichkeit führten. Und, etwas poetischer, von „moralischen Stahlgewittern“.
Mit seinen Bespielen setzt der Autor bewusst auf die solidarisierende Empörung seiner Leser, wenn er die Auswüchse von Identitätspolitik und Cancel Culture in jenem Bereich anführt, in dem die Freiheit des (auch inkorrekten) Wortes und des (auch abwegigen) Gedankens essenziell sind, nämlich in der Kunst. Wenn beim Theatertreffen die Rede der Kunst-Figuren auf der Bühne zensiert werde, dann seien es nicht die Autoritäten des Staates, die zündeln. Genau damit gefährde die Kunst ihre Freiheit selbst!
Wenn Stegemann oder auch Sahra Wagenknecht mit Beispielen etwas verdeutlichen und ein Postulat auf die Spitze treiben und so zur Kenntlichkeit entstellen, dann verlieren sie schon mal die Gelassenheit und kommen ihren wohlwollenden Lesern nicht nur intellektuell, sondern auch menschlich und emotional nahe. Klar, dass sie ihre Gegner damit zugleich auf die Palme bringen.
Mag sein, dass bei Stegemann die Bestandsaufnahme der Gegenwart etwas arg düster ausfällt oder dass die alte Bundesrepublik bis zum Ende der Ära Kohl bei Wagenknecht besser wegkommt, als man bei der streitbaren Linken vermutet hätte. Man muss beiden Autoren aber zugestehen, dass sie die Beleuchtung so austarieren, dass ihre Anliegen kontrastreich zur Geltung kommen.
Beide ergänzen ihre Kritik im Übrigen mit dem Versuch eines konstruktiv skizzierten Gegenentwurfs.
Bei Stegemann führt das im Abschnitt über die Perspektiven einer politischen Ökologie und der neuen Qualität der Herausforderungen des Klimawandels im Anthropozän allerdings zu einer geradezu verblüffenden Demut vor der Übermacht ungelöster, ja sogar als unlösbar ausgemachter Problemstellungen.
Bei Sahra Wagenknecht dominieren in der Frage nach einer gesellschaftlichen Perspektive die Erfahrungen ihrer langjährigen Einbindung in das (partei-)politische Tagesgeschäft. Bei ihr geht es nicht nur um die (erfrischend deutliche) Kritik an den vielzitierten Lifestyle-Linken, sondern auch um tatsächlich mögliche demokratische Allianzen für eine Trendumkehr im Hinblick auf ökonomische und politische Machtstrukturen. Alles im Rahmen eines eingehegten Kapitalismus und der Institutionen demokratischer Staaten. (Gut möglich, dass dieser gewollt bündnisfähige Ansatz die Kritik aus dem eigenen Lager befeuert hat.)
In ihrem differenzierten Herangehen bei ihren Angeboten zum Weiterdenken unterscheiden, respektive ergänzen sich Stegemann und Wagenknecht als Streiter wider die Auswüchse des Zeitgeistes auf eine Weise, dass es sinnvoll erscheint, sie beide – als Ergänzung zum jeweils anderen – zu lesen.
Bernd Stegemann: Die Öffentlichkeit und ihre Feinde, Verlag Klett Cotta, Stuttgart 2021, 384 Seiten, 22,00 Euro.
Sahra Wagenknecht: Die Selbstgerechten: Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt, Campus Verlag, Frankfurt/M. 2021, 345 Seiten, 24,95 Euro.
Schlagwörter: Bernd Stegemann, Cancel Culture, Diskurs, Gendern, Identitätspolitik, Joachim Lange, Sahra Wagenknecht, Zeitgeist