Am 29. Juni trafen sich in Süditalien die Außenminister der „G20-Gruppe“. Das sind regelmäßige Treffen der „wichtigsten Industrie- und Schwellenländer“, die über 60 Prozent der Weltbevölkerung und 80 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) der Welt vertreten. Auf der Tagesordnung standen die Bekämpfung des Hungers und die Herstellung globaler Nahrungsmittelsicherheit sowie der Kampf gegen Covid-19. Italiens Außenminister Luigi di Maio sprach von einem „starken Signal des Multilateralismus“.
In der diplomatischen Praxis gibt es die Regel, offizielle Schreiben mit besonders höflichen Schlussformeln zu versehen, etwa des Sinnes: „Ich nutze auch diese Gelegenheit, Sie des Ausdrucks meiner vorzüglichen Hochachtung zu versichern…“. Bei dem derzeitigen deutschen Amtsverwalter ist das umgekehrt. Er nutzte auch diese Gelegenheit, China und Russland völlig undiplomatisch seiner tiefen Abneigung zu versichern, sie dürften bei der Pandemiebekämpfung keine „geostrategischen Vorteile“ erzielen.
Russlands Außenminister Sergej Lawrow hatte am 28. Juni, am Vorabend des G20-Treffens, einen Artikel veröffentlicht, der über sein Außenministerium in mehreren Weltsprachen präsentiert wurde. Er verwies auf den konstruktiven Charakter des Gipfeltreffens zwischen Wladimir Putin und Joe Biden in Genf, betonte jedoch, die praktische Politik der nächsten Zeit müsse erweisen, welche Bedeutung es tatsächlich haben werde. Hier müssten auch die Treffen der G7 sowie der NATO berücksichtigt werden. Dort ging es um den Bau einer Weltordnung ausschließlich nach westlichen „Regeln“. Russland und China würden als „Träger des Autoritarismus“ und als „größtes Hindernis“ auf dem Weg zu dieser westlichen Weltordnung betrachtet. „Alle Beteuerungen der westlichen Hauptstädte, sie wären zu einer Normalisierung der Beziehungen mit Moskau bereit, wenn es Reue zeigt und sein Verhalten ändert, sind inzwischen sinnlos; und die Tatsache, dass man immer noch einseitige Forderungen an uns stellt, zeugt nur von der Unfähigkeit, die Situation adäquat zu bewerten.“ Lawrows Fazit: „Der Hochmut gegenüber anderen Mitgliedern der Weltgemeinschaft lässt den Westen auf der ‚falschen Seite der Geschichte‘.“
Dieser Hochmut resultiert noch immer aus dem „Fukuyama-Syndrom“: der Westen habe den Kalten Krieg gewonnen, nicht nur das sowjetische Gesellschaftssystem, sondern Russland verloren, und es gäbe keine Alternative zum westlichen liberaldemokratischen Kapitalismus. Russland solle endlich klein beigeben und sich in seine Rolle als „Regionalmacht“ fügen. Nach dem Ende des Kalten Krieges erwarteten die westlichen selbsternannten Sieger einen Zusammenbruch der politischen Systeme auch in den anderen Ländern, in denen „Kommunistische Parteien“ regieren, so in China, Vietnam, Nordkorea und Kuba. Das hat sich als grundlegender Irrtum erwiesen, wirkt aber bis heute nach und erklärt in beträchtlichem Maße die besondere Aggressivität im Westen gegenüber den politischen Systemen in diesen Ländern, vor allem gegenüber China.
Demgegenüber wurde am 1. Juli 2021 in Peking der 100. Jahrestag der Gründung der Kommunistischen Partei Chinas feierlich begangen. Staatspräsident Xi Jinping erklärte, China habe den „umfassenden Aufbau der Gesellschaft mit bescheidenem Wohlstand vollendet“. Das Land steuere nun auf das Ziel zu, „ein modernes sozialistisches Land in allen Bereichen“ aufzubauen. Dies sei „der große Ruhm der chinesischen Nation“ und des chinesischen Volkes und Verdienst der Kommunistischen Partei.
Nicht nur die bürgerlichen Medien, auch die Schreiberlinge der Nachhut der einst stolzen sozialistischen Bewegung im Westen versuchen, dies in ein möglichst schlechtes Licht zu rücken. Allerdings lassen sich die Fakten nicht aus der Welt schaffen. Das Pro-Kopf-Einkommen Chinas lag 1949, im Jahr der Gründung der Volksrepublik, bei umgerechnet 54 US-Dollar. Das BIP des ganzen Landes betrug 1960 59 Milliarden US-Dollar; im Jahre 1976 waren es 153 Milliarden, 1984 – nach Beginn der Wirtschaftsreformen – 316 Milliarden, im Jahre 2000 bereits 1.214 Milliarden, 2010 6.066 Milliarden und 2020 14.723 Milliarden US-Dollar. Seit Anfang der 1980er Jahre wurden 800 Millionen Menschen in China aus der Armut befreit. Ende 2016 lebten noch 3,1 Prozent der ländlichen Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze; das waren 43,4 Millionen von über 1,3 Milliarden Menschen. Insgesamt leben heute weniger als ein Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze.
Dieser Aufstieg flößt westlichen Politikplanern offenbar schon an sich Angst ein. In den inneren Zirkeln der außenpolitischen Analyse der USA wird betont, so der Journalist Matthias Naß, die Auseinandersetzung mit der Sowjetunion sei immerhin ein „Streit in der westlichen Familie“ gewesen, während China der erste „nicht weiße“ Rivale sei. Das kann man als Rassismus qualifizieren, muss man aber nicht darauf reduzieren. Es geht in erster Linie um die Macht im Weltsystem beziehungsweise die Verteidigung des seit 500 Jahren bestehenden Weltsystems als Konstrukt westlicher, nordatlantischer Macht. Das Gerede, wer hier welche Regeln bestimmt, ist nur eine Umschreibung dessen. Der britische Publizist Martin Jacques schrieb bereits 2012: „Der Aufstieg Chinas zum globalen Akteur relativiert alles. Der Westen ist an die Vorstellung gewöhnt, die Welt sei seine Welt, die internationale Gemeinschaft sei seine Gemeinschaft, die internationalen Institutionen seien seine Institutionen, […] die universellen Werte seien seine Werte […]. Das gilt nicht länger.“
Ganz in diesem Sinne benannte Pepe Escobar von der Asia Times den Grundkonflikt so: „Was in diesem Wettbewerb zwischen schwächelnden westlichen (neo)liberalen Demokratien und dem ‚Sozialismus mit chinesischen Merkmalen‘ (Copyright Deng Xiaoping) letztlich auf dem Spiel steht, ist die Fähigkeit, das Leben der Menschen […] zu verbessern.“ Er verweist auf den britischen Sinologen Kerry Brown vom King’s College in London, der geltend macht, dass die Debatten in Europa um das Nicht-Verstehen Chinas im Grunde seit Leibniz, der China hoch schätzte, und Montesquieu, der nur ein despotisches, autokratisches, imperiales System sah, geführt werden und die Positionierungen seit 250 Jahren festgefahren sind.
Nach Brown handelt es sich um drei Hauptprobleme: (1) In der gesamten modernen Geschichte gibt es keine westliche Wertschätzung für China als eine starke und mächtige Nation oder für seine wiederhergestellte historische Bedeutung. Die westliche Mentalität ist nicht bereit, damit umzugehen. (2) Der moderne Westen hat China nie als Weltmacht gesehen, und wenn als Macht, dann bestenfalls als Landmacht, nie als Seemacht, die fähig sein könnte, Macht weit über seine Grenzen hinaus auszuüben. (3) Angetrieben von der eisernen Gewissheit eigener Wertebezogenheit – so das „sehr abgegriffene Konzept“ der „wahren Demokratie“ – hat der atlantische Westen keine Ahnung, was er von den chinesischen Werten halten soll, und ist letztlich auch nicht daran interessiert, China zu verstehen. Das führe zu einem Vorurteil der Selbstbestätigung, dessen Ergebnis China als „Bedrohung für den Westen“ ist.
Eine besonders subtile Art, dies zu bedienen, liefert der Sinologe und in Peking lebende US-Journalist Michael Schuman. Xis Restauration des Reichs wiederbelebe das traditionelle chinesische System der auswärtigen Beziehungen. „Der Westen hatte die Hoffnung, dass China so sehr in das derzeitige, von Westmächten geschaffene Weltsystem integriert werde, dass es sich zu diesem System bekennen werde und dass die Stränge der chinesischen und der westlichen Weltgeschichte dereinst miteinander verflochten würden, ja, sich sogar miteinander verbänden. Die Chinesen hatten jedoch andere Absichten.“ Der Kern des Vorwurfes: Die Chinesen wagen es, so zu sein, wie sie es wünschen, und nicht, wie der Westen es möchte.
Schlagwörter: Armutsbekämpfung, Bernhard Romeike, China, G20, NATO, Russland