Am Schluss ihres Buches über die „Selbstgerechten“ schreibt Sahra Wagenknecht: „Das, was heute Linksliberalismus genannt wird, ist die große Erzählung der akademischen Mittelschicht. In ihr spiegeln sich ihre Werte, ihre Lebenswelt und ihre Interessen. Daher sieht der Linksliberalismus die Geschichte der zurückliegenden Jahrzehnte aus der Perspektive der Gewinner: als Fortschritts- und Emanzipationsgeschichte.“ Im Mittelpunkt stehen „die individualistischen und kosmopolitischen Werte, die das Lebensgefühl moderner Großstadtakademiker prägen. Daher geht es im Rummel um Diversity und Quoten immer nur darum, bereits privilegierten Frauen und Minderheiten bessere Chancen im Kampf um gut dotierte Stellen zu verschaffen.“
Deutschland ist tief gespalten, der gesellschaftliche Zusammenhalt zerbröselt, das gesellschaftliche Miteinander weicht einem immer feindlicher werdenden Gegeneinander. Viele haben es verlernt, über Probleme mit Anstand und Respekt zu diskutieren. „An die Stelle demokratischen Meinungsstreits sind emotionale Empörungsrituale, moralische Diffamierungen und offener Hass getreten.“ Das Meinungsklima wird jedoch nicht nur von rechts vergiftet. Die neoliberale Rechte hat den Boden bereitet durch Entfesselung der Märkte und Zerstörung sozialer Absicherungen. Viele Sozialdemokraten und Linke jedoch schlugen sich auf die Seite der Gewinner und haben ihre einstigen Wähler nicht nur verraten, sondern auch noch verächtlich gemacht. Man denke nur an die Attitüden von Gerhard Schröder und Joseph Fischer, als sie den deutschen Sozialstaat demolierten und Hartz IV etablierten. Für diese neuen Linken, „die die Seiten gewechselt haben, hat sich der Begriff des Linksliberalismus etabliert“. Er hat seine soziale Basis in der gut situierten akademisch gebildeten Mittelschicht der Großstädte. Sie ist mit dem Neoliberalismus entstanden, weil der in allen Ländern eine gebildete, weltläufige, polyglotte Dienstklasse braucht, um seine Geschäfte verrichten zu können. Linksliberale sind jedoch zweierlei nicht, sie sind keine „linken Liberalen“, die nicht nur für Freiheit, sondern auch für soziale Verantwortung eintreten; und keine „liberalen Linken“, weil ihre Ideologie und Politik immer mehr Illiberalität produzieren. „Linksliberale Intoleranz und rechte Hassreden sind kommunizierende Röhren.“ Zugleich ist die Benutzung dieser Sprache für Eingeweihte Mittel der Distinktion dieser wohlhabenden urbanen Mittelschicht nach unten.
Das neue Buch Wagenknechts ist kenntnisreiche Beschreibung und zugleich Programmpapier. Es ist in zwei Teile untergliedert: „Die gespaltene Gesellschaft“ und „Programm für Gemeinsamkeit“. Leitend ist ihre Sorge um das Schicksal der Linken. Die Gründer der sozialistischen Bewegung, Marx, Engels, Lassalle, Lenin und andere, entstammten der Oberschicht und waren mit dem Dünkel gegenüber den Subalternen aufgewachsen. Sie hatten sich dagegen entschieden und wollten deren Schicksal zum Besseren wenden. Die Arbeiterklasse sollte sich selbst befreien und deshalb entstammten die Mitglieder sozialdemokratischer und kommunistischer Parteien mehrheitlich der Arbeiter- und Bauernschaft. In der Wendezeit galt das als stalinistisch.
Man kann den ersten Teil des Buches als Lehrmaterial lesen, in dem Wagenknecht dem naiven Leser, der sein Tagewerk mit anderem verbringt, als die neuesten Moden von Identitätspolitik und Gendersprech zu verfolgen, erklärt, wie all diese Aufwallungen entstanden sind. Im Hintergrund steht die Idee der französischen Philosophen Michel Foucault und Jacques Derrida, die sich Poststrukturalisten oder Dekonstruktivisten nannten, „dass der Mensch mittels Sprache die Realität nicht beschreibt, sondern schafft“, „dass jenseits der Sprache gar keine reale Welt existiert, auf die wir uns beziehen“. Dann begann an US-amerikanischen und britischen Eliteuniversitäten die Reglementierung der Sprache: Wer die Sprache verändert, verändert die Welt. Hinzu kam, dass der Kampf gegen „Mikroaggressionen“ erfunden wurde. Die zarten Seelen von Studenten, deren Helikopter-Eltern ihnen nicht nur alle Sorgen und Widrigkeiten des Lebens vom Leibe gehalten hatten, sondern die auch die Universitätsgebühr von mehreren zehntausend Dollar pro Semester bezahlten, sollten vor Verletzungen bewahrt werden. „Mikroaggressionen“ sind Worte, „durch die sich jemand, der einer als Opfergruppe qualifizierten Minderheit angehört, durch einen Sprecher, der nicht zu dieser Minderheit zählt, verletzt fühlt“. Das benutzte Wort muss nicht beleidigend und Herabsetzung nicht Absicht des Sprechers sein. „Es genügt, wenn ein Angehöriger einer Minderheit etwas in den falschen Hals bekommt.“ Selbstverteidigung des Sprechers ist zwecklos, es zählt nicht, was er gemeint hat, sondern was der Angesprochene empfindet. So helfen nur Selbstkritik und Buße. Die Heilige Inquisition und der Genosse Stalin lassen grüßen.
Transformator dieses Zeitgeistes ist die „Identitätspolitik“, die zum Weltbild des Linksliberalismus wurde. Diese richtet ihr Augenmerk, so weiter Wagenknecht, „auf immer kleinere und immer skurrilere Minderheiten […], die ihre Identität jeweils in irgendeiner Marotte finden, durch die sie sich von der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden und aus der sie den Anspruch ableiten, ein Opfer zu sein“. In diesem Sinne hat die „Gendertheorie“ auch das Geschlecht als „gewalthafte Zuweisung“ durch die „heteronormative Gesellschaft“ dekonstruiert. Die Behauptung, es gäbe biologische Unterschiede zwischen Frau und Mann, ist reaktionäre Ideologie und ein „Akt diskursiver Machtausübung“. Das heißt: „Wo es keine Wahrheit mehr gibt, hat am Ende jeder seine.“ Das postfaktische Zeitalter wurde eröffnet. Dafür konnte Donald Trump danken.
Der Linksliberalismus widerspricht mit dem identitätspolitischen Ansatz drei Grundprämissen traditionellen linken Denkens. Erstens dem zentralen Wert der Gleichheit, der schon von der Französischen Revolution 1789 her kommt: Alle Menschen müssen ein Recht auf gleiche Lebenschancen haben, die nicht durch Elternhaus und Herkunft vorherbestimmt sein sollen; Unterschiede, die auf Geburt und Herkunft zurückzuführen sind, also auch Hautfarbe oder ethnische Herkunft der Vorfahren sollten ohne Bedeutung sein. Zweitens stand die Linke „in der Tradition der Aufklärung und setzte auf die Kraft rationaler Argumente“. Die Identitätspolitik dagegen verwirft die Idee, eine rationale Debatte überhaupt führen zu können, und überhöht „diffuse Empfindungen und mimosenhaftes Beleidigtsein“. Argumentieren wird durch Moralisieren ersetzt, der Andersdenkende wird mit Tabus bekämpft und soll ausgegrenzt werden. Drittens hatte die Linke die Menschen stets ermutigt, ihre Identität über ihre soziale Stellung und ihren sozialen Aufstieg zu definieren. Die Identitätspolitik dagegen kapriziert sich auf individuelle Eigenschaften, wie Ethnie, Hautfarbe oder sexuelle Orientierung. Das war in der Vergangenheit der Ansatz der Rechten und Rassisten, die die Menschen schon immer über Hautfarbe und Abstammung definierten und die Aufklärungsphilosophie bekämpften.
Der identitätspolitische Linksliberalismus konstruiert gemeinsame Interessen dort, wo es keine gibt – Was hat der schwule Fernfahrer, der sich viele Stunden für schlechten Lohn auf den Autobahnen abschuftet, mit dem hochbezahlten homosexuellen Starschauspieler zu tun? – und spaltet dort, wo Zusammenhalt dringend notwendig ist. Indem Gemeinschaft und Gleichheit abgewertet werden, stiehlt sich der Linksliberalismus aus sozialer Verantwortung. Jedes echte Solidarsystem muss die Zahl der Einzahler und Empfänger in einer ausgewogenen Balance halten. Indem dies als reaktionär verschrien wird, stellt der Linksliberalismus mit dem vermeintlichen Ideal des Kosmopolitismus eine Erzählung bereit, „mittels deren sich auch Wirtschaftsliberalismus, Sozialabbau und Globalisierung als gerecht und progressiv begründen lassen“. Der alte Neoliberalismus und seine politische Tagesordnung entfesselter Märkte und globaler Renditejagd waren bereits Anfang des 21. Jahrhunderts desavouiert. Der Linksliberalismus hat ihm neuen ideologischen Rückenwind verliehen.
Der zweite Teil des Buches enthält viele interessante Punkte für eine echte alternative Politik, von der Wirtschafts-, Sozial und Steuerpolitik, die Europapolitik und internationale Politik bis zu De-Globalisierung und einer tatsächlichen Klimapolitik. Die Veränderungen der vergangenen Jahrzehnte waren nicht nur technologisch verursacht, sondern auch politisch herbeigeführt. Mit den Privatisierungen wurde mehr Wettbewerb versprochen; tatsächlich wurde fairer Wettbewerb zurückgedrängt. Der blinde Glaube an die „Weisheit der Märkte“ hat marktbeherrschende Großunternehmen und Digitalmonopole entstehen lassen, die der Welt ihren Tribut auferlegen und die Demokratie zerstören. Statt einer dynamischen entstand eine „innovationsfaule Ökonomie“, die viel Geld in für die Allgemeinheit schädliche Finanzgeschäfte versenkt und es verunmöglicht, die wirklich wichtigen Probleme zu lösen. Deshalb braucht es dringend einen Politikwechsel.
Die Vorherrschaft der Selbstgerechten in der Linkspartei führt auch dazu, dass die verbliebenen Gerechten den Mund halten oder flüchten. Die Linksliberalen reagierten auf dieses Buch, indem sie ein Parteiausschlussverfahren gegen Sahra Wagenknecht anstrengten. In keiner anderen Partei kommt irgendjemand, auch nur besoffenerweise auf die Idee, kurz vor der Wahl die öffentlich bekannteste Person aus der Partei ausschließen zu wollen. Auch deshalb sei das Buch allen empfohlen, die verstehen wollen, weshalb die Linke in Deutschland derzeit nichts zustande bringt.
Sahra Wagenknecht: Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt, Frankfurt am Main/ New York: Campus Verlag 2021, 346 Seiten, 24,95 EUR.
Schlagwörter: Die Linke, Erhard Crome, Identitätspolitik, Linksliberalismus, Sarah Wagenknecht, soziale Gerechtigkeit