24. Jahrgang | Nummer 16 | 2. August 2021

Nationsperspektiven

von Erhard Crome

Unter rezenten Linken gilt die Idee der Nation in eins gesetzt mit Nationalismus und als ideologisches Konstrukt bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaften. Die konstruktivistische Wende in den Sozial- und Geisteswissenschaften stellt Erkenntnis als intellektuelle Vergewisserung überhaupt in Frage. Marx und Hegel wird bereits vorgeworfen, dass sie etwas zu wissen beanspruchten. In seinem Text „Zur Romantik“ zitierte der großartige Peter Hacks Goethe, der in der Zeit der anti-revolutionären Reaktion 1826 gesagt hatte: „Alle im Rückschreiten und in der Auflösung begriffenen Epochen sind subjektiv, dagegen haben aber alle vorschreitenden Epochen eine objektive Richtung. Unsere ganze jetzige Zeit ist eine rückschreitende, denn sie ist eine subjektive.“ Und Hacks fügte mit Hegel hinzu, das Übel der Zeit sei „die Zufälligkeit und Willkür des subjektiven Gefühls und seines Meinens“. In genauso einer Zeit leben wir heute.

Die deutsche Vereinigung von 1990 als proklamierte Lösung der „deutschen Frage“ hatte das Thema Nation wieder auf die Tagesordnung der europäischen Politik gebracht. Sie war seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges unter dem Eispanzer des Kalten Krieges eingefroren. Selbst der kluge und den Tiefenschichten der deutschen Geschichte gegenüber äußerst sensible Sebastian Haffner hatte noch 1987 in der deutschen Zweistaatlichkeit die abschließende Antwort auf die deutsche Frage gesehen. Zwei Jahre später wurde diese von der Geschichte widerrufen und mit der deutschen Vereinigung neu beantwortet. Dies hat einen weiteren Zyklus national-konstituierender Prozesse in Europa eröffnet, der mit dem Zerfall der Sowjetunion, Jugoslawiens und der Tschechoslowakei, den Kriegen um Bosnien und den Kosovo sowie um Südossetien und Abchasien seine Fortsetzung fand. Angesichts der Forderungen nach Lostrennung Schottlands von London sowie Kataloniens von Madrid ist festzustellen, dass dieser Zyklus sein Ende noch nicht gefunden hat und nicht auf den Osten Europas begrenzt blieb.

Wer sich mit diesem Thema epistemisch beschäftigt, stellt fest, dass zur Nation, ihrem Wesen und ihrer historischen Rolle etwa alle 20 bis 25 Jahre diskutiert wird. Jetzt bricht gerade wieder eine solche Diskussion an. Neuere Buchtitel machen dies deutlich. Eine ganz aktuelle (vor der Corona-Pandemie erstellte) Studie unter Verantwortung des Politikprofessors Emmerich Tálos, Wien, befasst sich mit dem Zusammenhang von „neuem Nationalismus“ in Europa, dem „subjektiven Sicherheitsempfinden“ der Österreicher und ihrem Vertrauen in die EU. Die Ausgangshypothese besagt, dass die „Zunahme nationalistischer Tendenzen“ Reaktion auf „enttäuschte Erwartungshaltungen an die EU bzw. ein Versagen der EU beispielsweise in der Flüchtlingsfrage“ sowie Folge einer „Verunsicherung der Bevölkerung“ sei. Empirische Grundlage sind leitfadenorientierte Interviews mit 15 Experten sowie eine repräsentative schriftliche Befragung unter der österreichischen Bevölkerung. Der Band dokumentiert auch das empirische Material und seine Auswertungen, die uns hier nicht weiter interessieren, aber für Fachleute von Interesse sein dürften.

Da das Thema von vornherein auf „Nationalismus“ fokussiert, ist die Perspektive auf die Thematik zunächst pejorativ ausgerichtet. Begriffe wie „Nationalbewusstsein“ und „Nationalismus“ würden heute „oft mit einer negativen Konnotation in Richtung ‚reaktionär’ oder ‚rechtspopulistisch’ verbunden“. Als österreichisches Phänomen werden hier die Stimmengewinne der FPÖ gesehen. Die schlichte Annahme lautet, Nationalismus liege vor, „wenn die Nation die gesellschaftliche Großgruppe ist, der sich der einzelne in erster Linie zugehörig fühlt“. Von da ist es dann nicht weit zu einem ebenso schlichten Verständnis des Populismus. An seinem Anfang stehe „ein radikales Verständnis von Demokratie als Regierung des Volkes, für das Volk und durch das Volk“. Allerdings haben die Autoren hier unterschlagen, dass dies die ganz ursprüngliche Definition der Demokratie ist, wie sie Abraham Lincoln in seiner berühmten Rede in Gettysburg am 19. November 1863 formuliert hat. Insofern ist es schon eine ziemliche Volte, dies pejorativ wenden zu wollen.

Am Ende kommen die Autoren allerdings doch auf eine vernünftige Unterscheidung zwischen Nation und Nationalismus. Ziel der „Einigung Europas“ in der EU sei „die Überwindung des Nationalismus“. Sie ziele jedoch „nicht auf die Abschaffung von Nationen oder nationalen Identitäten“. Die EU-Länder blieben „ihrem Verständnis nach Nationalstaaten“; ob sie es nach jahrhundertelanger Zu- und Abwanderung „objektiv“ noch immer sind, sei eine andere Frage. Zentraler Faktor für die Begrenzung des Nationalismus in Westeuropa sei bis in die 1980er Jahre der hochentwickelte Sozialstaat gewesen. Neoliberalismus und Globalisierung jedoch hätten „es erleichtert, dieses westeuropäische Konzept der Sozialstaatlichkeit als welthandelsfeindlich und protektionistisch infrage zu stellen, was das Modell eines schwach ausgeprägten Sozialstaats wie in den USA gleichsam als Regelfall erscheinen lässt“. Der Nationalismus als Rückbezug auf die Nation sei eine Reaktion darauf. In Osteuropa sei der neue Nationalismus zudem als Opposition „gegen erzwungene Internationalisierung“ zu verstehen. Er sei – in Ost wie West – nicht beschränkt auf Menschen „völkisch-nationaler Gesinnung“, sondern hänge damit zusammen, dass die „unteren und mittleren Einkommens- und Bildungsschichten“ nicht nur mit der Globalisierung relativ an Boden verloren hättben, sondern durch zugewanderte Personengruppen sowohl in Bezug auf ihre Arbeitsplätze als auch ihre Wohnungssituation in einen Wettbewerb gedrängt worden seien. In diesem Sinne werde das subjektive Sicherheitsempfinden im weitesten Sinne, also vom Zugang zum Gesundheitswesen über die Geldwertstabilität bis zur Alltagskriminalität, zu einem relevanten politischen Faktor. Interessant allerdings sei, dass sich der Anteil der Österreicher, die meinen, die Dinge in der EU würden in die richtige Richtung laufen, nach dem Brexit von 13 Prozent (2015) auf 34 Prozent (2019) erhöht habe.

In der Auswertung der Leitfaden-Interviews wird darauf verwiesen, dass von Expertenseite der Unterschied zwischen Nationalismus und Patriotismus betont wurde. „Nation habe mit dem Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen zu tun, das dort entstehe, wo es die meisten Berührungspunkte und Gemeinsamkeiten gebe.“ Der neue Nationalismus unterscheide sich von dem alten dahingehend, dass „er nicht mehr imperialistisch und expansiv agiere, sondern sich im Sinne einer Abkapselung eher nach innen wende“. Auch stehe nicht mehr die „Blutsgemeinschaft“, sondern eine „kulturelle Bestimmung nationaler Zugehörigkeit“ im Mittelpunkt. In der Zusammenfassung der Befragungen heißt es, die Mehrheit (69 Prozent) wünsche sich nationale Entscheidungen unter anderem auf den Feldern Regional- und Sozialpolitik, Beschäftigung, Jugend, Gesundheit, Landwirtschaft, Steuerwesen, Bildung und Kultur. Die EU dagegen solle sich um „Migration von außerhalb der EU“, Binnenmarkt, Terrorismusbekämpfung, Außen- und Sicherheitspolitik, Handel und Zollwesen, Entwicklungspolitik sowie Forschung und Innovation kümmern. Dies dürfte eine nicht nur österreichische Sichtweise ausdrücken.

Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann hat ein Buch über die „Wiedererfindung der Nation“ veröffentlicht. Im Grunde widerspiegelt bereits der Titel, dass auch sie die Nation nicht für eine objektiv begründete Kategorie hält. Obwohl sie den klassischen Titel von Ernest Gellner: „Nations and Nationalism“, auf Deutsch: „Nationalismus und Moderne“, aus dem Jahre 1983 erwähnt, bleibt sie hinter dessen analytischer Substanz sichtbar zurück. Bei Gellner gibt es den konstitutiven Zusammenhang von Kapitalismus, bürgerlichem Rechtsstaat und allgemeiner Verkehrssprache für alle – nicht nur für die Oberklassen oder die Priesterschaft –, aus denen die Konstituierung der Nation folgt. Assmanns Untertitel: „Warum wir sie fürchten und warum wir sie brauchen“ verweist zugleich auf das Skrupulöse, das sie verspürt, weil sie sich bereits mit der Wahl ihres Thema aus dem Dunstkreis des westdeutschen akademischen Linksliberalismus und seinen Schweigegelübten entfernt.

Assmann stört sich zunächst daran, dass das Thema Nation aus den akademischen Diskursen verbannt wurde. Einen wichtigen Grund sieht sie darin, dass „die Trennlinie zwischen demokratischer Nation und nicht-demokratischer Nation nicht klar gezogen wird“. Im Namen eines verschwommenen und abstrakten Kosmopolitismus glaubten viele Intellektuelle, das Problem Nation durch „Nichtthematisierung“ aus der Welt schaffen zu können. Assmann plädiert daher dafür, Nation nicht mit Nationalismus gleichzusetzen und den Begriff nicht den Rechten und Nationalisten zu überlassen. Deshalb gehe es um eine „Wiedererfindung der Nation“. Unter Verweis auf die US-amerikanische Publizistin Jill Lepore betont sie, in einer Welt, die nach wie vor aus Nationalstaaten besteht, bleibe „die Nation der verlässlichste Garant für Recht und Gesetz und das wirkungsvollste Instrument, um die Macht der Vorurteile, Intoleranz und Ungerechtigkeit zu bekämpfen. Wer den Liberalismus gegen die autoritäre Welle unserer Zeit verteidigen will, der muss die Nation neu denken.“ Im Aufschwappen der Identitätsdiskussionen seit den 1990er Jahren und der überhandnehmenden Identitätspolitik sieht sie eine Folge der „Auflösung politischer Ideologien nach dem Ende des Kalten Krieges und der Suche nach neuen Formen von Zugehörigkeit im Zeitalter der Globalisierung“. Zugleich kritisiert Assmann Autoren wie Ulrike Guérot und Robert Menasse, die die Nationen in Europa abschaffen und in einer „Europäischen Republik“ aufgehen lassen wollen. Tatsächlich sei es die historische Leistung der EU, „die Nationen in einem demokratischen Staatenverbund zusammengebracht und gezähmt“ zu haben. In diesem Sinne plädiert sie für eine „zivile Nation“, die es zu verteidigen gelte „gegen die Verächter der Demokratie ebenso wie gegen die Verächter der Nation“.

Zum 3. Oktober betont Assmann, dass er als Vereinigungstag bewusst von Helmut Kohl nicht als „bleibende Hommage an den Freiheitswillen und den Mut der Ostdeutschen“ durchgesetzt wurde, sondern als „Datum der Geschichte der Sieger“. „Vom Westen her regierte der Kapitalismus mit Kolonisierung und Anpassungsdruck, im Osten endete die Bewegung in diffuser Unübersichtlichkeit.“ Das wirke bis heute nach. Den Wechsel der Parolen auf den Straßen Ostdeutschlands im November 1989 von „Wir sind das Volk!“ zu „Wir sind ein Volk!“ vermerkt Assmann, ordnet dies jedoch unzureichend ein. Dafür wiederholt sie die derzeit übliche, längst sachlich widerlegte Lüge, die DDR-Bevölkerung habe sich erst nach 1990 „mit der bislang ausgeschlossenen Geschichte der Juden während der NS-Zeit beschäftigen“ müssen.

Assmann versteht jedoch nicht nur Ostdeutschland, sondern auch Osteuropa nicht. So kritisiert sie die Position Polens, die Nation an die oberste Stelle zu setzen und die EU als „ideologischen Feind“ anzusehen. Eine solche Darstellung verkennt völlig, dass der jahrzehntelange Kampf vieler Polen gegen die Zumutungen Moskaus nicht im Sinne der postmodernen westlichen Freiheiten, sondern der Freiheit der Nation geführt wurde. Wer vor Moskaus militärischer Macht nicht einknickte, wird es auch vor den Brüsseler Eurokraten nicht tun. Die Kurzschlüsse Assmanns korrespondieren mit der Feststellung, die ernsthafte wissenschaftliche Debatte um die Nation sei in den 1980er Jahren mit den Schriften von Gellner und anderen stillgestellt worden. Es hat aber in den 1990er und 2000er Jahre eine intensive Debatte in Ostdeutschland zu dem Thema, insbesondere im Hinblick auf Deutschland und Osteuropa gegeben. Zu nennen wären die Philosophen Peter Ruben und Michael Schumann sowie die Leipziger Osteuropa-Wissenschaftler, die unter der Federführung von Ernstgert Kalbe und Wolfgang Geier bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung die Schriftenreihe „Osteuropa in Tradition und Wandel“ herausgegeben haben. Da könnte Assman noch nachlesen.

Damit kommen wir zu Hedwig Richters „deutscher Affäre“, die in der Verbindung der Deutschen mit der Demokratie bestehe. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung kritisierte scharf, dass dieses Werk und seine Autorin bereits in sehr frühen Besprechungen von Großkopferten aus der Historikerzunft grob verrissen wurden, was, rein sachlich betrachtet, als ehrabschneidend zu bewerten sei. Wahrscheinlich waren die in Rede stehenden Rezensenten nur neidisch auf die jüngere und zugleich umtriebige, medienaffine Frau Professorin, und es ging im Kern um den Platz am Trog der Drittmittel. Darauf will ich mich jetzt nicht einlassen und lese das Werk unter einer Nationsperspektive. Auch wenn es zugleich andere Facetten hat.

In Bezug auf die Wahl zum gesamtdeutschen Bundestag 1848 betont Richter, „ohne Nationalismus hätte es kaum Demokratisierung geben können“. Die Nation habe „als Gleichmacherin“ gewirkt. „Nicht zufällig hatte die kurzlebige polnische Verfassung vom 3. Mai 1791, die erste in Europa, die Idee der Gleichheit in Form der ‚Nation’ bewahrt, von der ‚jede Gewalt’ auszugehen habe“. Die Gleichheit verband sich mit der „Brüderlichkeit“, die schon in der französischen Revolution von 1789 beschworen wurde: „Nation schenkt Identität, Zugehörigkeit und in gewisser Weise Geborgenheit“. Sie schließe öffentliche Kommunikation und eine wehrhafte Bürgerschaft mit ein. Zugleich wäre ohne nationale Identität das Parlament nicht praktikabel gewesen. Die Wählenden und die Gewählten hätten eine Gemeinschaft bilden müssen, was zugleich die Exklusion aller, die nicht zur Nation gehörten, mit einschlossen habe. „Ein Parlament konnte nicht die Menschheit vertreten; rein praktisch war das nicht möglich, und auch ideell gab es dafür keine Grundlage.“

In Bezug auf die Gründung der BRD stellt Richter die rhetorische Frage, ob den Westalliierten hier ein Wunder gelungen sei, das „aus dem Nichts“ kam. Ihre Antwort lautet, dass „amerikanische Idealisten, rückkehrende Exilanten, humanistische Intellektuelle, alle Schattierungen an Demokraten“ ihre Ideale zur Geltung gebracht hätten, und zwar in anderer Weise, „als das etwa in den vom Rassismus beherrschten Vereinigten Staaten möglich gewesen wäre“. Das habe am Ende aber nur funktioniert, „weil die Deutschen längst demokratische Verfahren geübt hatten und in allen Ländern parlamentarische und partizipative Traditionen bis weit ins 19. Jahrhundert zurückreichten“. Die Folgerung lautet: „Demokratie ist ein mühsames Lern- und Selbsterziehungsprojekt, das nicht über Nacht und erst recht nicht durch externe Mächte installiert werden könne, wie sich in der Weltgsechichte immer wieder beobachten lässt.“

Auch Richter wendet sich gegen die Idee, im EU-Europa müsse die Nationalstaatlichkeit überwunden werden. „Demokratie hat sich keineswegs zufällig innerhalb von Nationalstaaten entwickelt, und die Werte der Französischen Revolution wurden nicht etwa durch die Nationalstaatlichkeit gekapert, wie häufig behauptet wird. Vielmehr bot die Nation den Rahmen für eine realistische, erfahrbare Gemeinschaft, innerhalb derer sich die Bürger als Gleiche begegnen und ein Gefühl der Solidarität entwickeln konnten.“ Die EU sei „etwas Neues und Großartiges“, lösche jedoch „die Idee der Nationen nicht aus“. Deren Attraktivität und anhaltende emotionale Mobilisierungskraft dürfe nicht unterschätzt werden.

Hier sei noch einmal Aleida Assmann zitiert: „Die deutsche Nation ist offenbar die einzige, die ihren Nationalfeiertag nicht mit Jubel, Trubel und Feuerwerk, sondern mit Jammer, Klage und Anklage begeht. […] Kein anderes Land auf der Welt serviert sich zu seinem Geburtstag einen so depressiven Eintopf.“ Auch an diesem deutschen Wesen wird folglich nicht die Welt genesen.

Michaela Hudler-Seitzberger / Reinhold Gutschik / Emmerich Tálos: Sicherheit, neuer Nationalismus und EU, Lit Verlag, Wien 2021, 234 Seiten, 29,90 Euro.

Aleida Assmann: Die Wiedererfindung der Nation. Warum wir sie fürchten und warum wir sie brauchen, Verlag C.H. Beck, München 2020, 336 Seiten, 18,00 Euro.

Hedwig Richter: Demokratie. Eine deutsche Affäre, Verlag C.H. Beck, München 2021, 400 Seiten, 26,95 Euro.