24. Jahrgang | Nummer 14 | 5. Juli 2021

Bruchlinien in Europa

von Erhard Crome

Mit scharfen Anwürfen gegen ein Gesetz in Ungarn, die Darstellung von Homosexualität und Geschlechtsumwandlung in Text, Bild, Film und Werbung gegenüber Minderjährigen zu verbieten, forderte der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte, wenn Ungarn „die gemeinsamen Werte der EU“ nicht akzeptiere, solle es aus der EU austreten. Viktor Orbán antwortete, „die Einheit der Werte“ gebe es nicht. „Wenn wir die Europäische Union zusammenhalten wollen, müssen die Liberalen die Rechte der Nichtliberalen respektieren.“ Formaljuristisch hat Orbán recht. Die Grundrechtecharta der EU bestimmt, das Recht, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen, werde „nach den einzelstaatlichen Gesetzen gewährleistet“. Das gilt auch für „das Recht der Eltern, die Erziehung und den Unterricht ihrer Kinder entsprechend ihren eigenen religiösen, weltanschaulichen und erzieherischen Überzeugungen sicherzustellen“.

Hier haben wir es mit einer kulturellen Bruchlinie durch Europa zu tun. Die kann mit Hilfe der kulturwissenschaftlichen Erklärungsmuster von Arnold Toynbee verortet werden (Das Blättchen, No. 12/2021). Der irische Autor Jack Holland betonte, der Ausgangspunkt liege in Frauenfeindlichkeit (Misogynie). Er diagnostizierte eine eigenartige Verquickung zwischen Frauen-, Juden- und Schwulenfeindlichkeit. Es beginnt mit der griechischen Mythologie und dem jüdischen Glauben acht Jahrhunderte vor Christus, mit der „Erbsünde“. Bereits der Gott des Alten Testaments ist „ein einsamer Grübler“, der, anders als die Götter des Olymp, weder Liebe noch Fleischeslust kennt, sich an der Schönheit der Kreaturen, die er erschaffen hat, nicht zu erfreuen vermag und dessen Gefühlsspektrum nicht über Eifersucht und Zorn hinausgeht. Dieser Gott schafft den Menschen nach seinem Bilde in Gestalt des Mannes, der mit sich, seinem Leben im Paradies und seinem Verhältnis zu Gott zufrieden ist. Bis der auf die Idee kommt, die Frau zu schaffen, aus des Mannes Rippe, als seine „Gehilfin“. Da diese gegen Gottes Gebot verstößt, nicht vom Baum der Erkenntnis zu essen, kommt durch sie die Sünde in die Welt und beide, der Mann und die Frau, werden aus dem Paradies vertrieben. Es sind diese Geschichten, die das Judentum, das Christentum und der Islam gemeinsam haben; sie schreiben dem Mann eine Überlegenheitsrolle und der Frau die der Sünderin zu.

Holland sieht eine Analogie zum Antisemitismus. Er war weitgehend auf die christliche Gesellschaft beschränkt, die sich in Europa nach dem Untergang des Römischen Reiches entwickelte. Den Juden wurde – wegen der „Schuld“, die sie am Tod Jesu trugen – unterstellt, das „Moralgefüge der Welt“ zu bedrohen; sie leugneten seine göttliche Natur, so wie die Frauen durch Evas Sündenfall die Verantwortung für die Vertreibung aus dem Paradies trugen. In dem Maße, wie die Kirchen seit dem 17. Jahrhundert an Einfluss verloren, machten Misogynie wie Antisemitismus eine Säkularisierung durch: zu ihrer Rechtfertigung wurden Anfang des 20. Jahrhunderts „wissenschaftliche“ Erklärungen statt biblischer Belege herangezogen. Diese sind längst als unwissenschaftlicher Unsinn bloßgestellt.

Die Verfolgung Homosexueller ist bei den Buch-Religionen Kehrseite der Frauenfeindlichkeit. Dazu Holland: „Homosexualität war ebenso verpönt wie jede andere Art der nutzlosen Vergeudung männlichen Samens, als da seien Sodomie, Masturbation und Oralverkehr. Jeder Tropfen der kostbaren Flüssigkeit war dem Akt der Zeugung vorbehalten.“ Mit dem Kampf gegen die Diskriminierungen der Frau kam in den europäischen Gesellschaften auch das Ringen gegen die Verfolgung von Homosexualität voran.

In Deutschland stellte das Reichsstrafgesetzbuch von 1872, Paragraph 175, sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts unter Strafe – da Frauen ohnehin männlicher Vormundschaft unterstanden, des Vaters beziehungsweise des Ehemannes als „Familienoberhaupt“, bezog sich die Ahndung folgerichtig auf Männer. Das NS-Regime hatte 1935 den Paragraphen verschärft, durch Erweiterung des Straftatbestandes auf „beischlafähnliche“ und andere „unzüchtige“ Handlungen und Anhebung der Höchststrafe, im schweren Fall bis zu zehn Jahren Zuchthaus. Die DDR übernahm 1950 die alte Fassung des Paragraphen 175, also ohne die nazistische Verschärfung, stellte seit Ende der 1950er Jahre die Verfolgung homosexueller Handlungen zwischen Erwachsenen jedoch ein. Mit dem neuen Strafgesetzbuch der DDR von 1968 wurden gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen mit Jugendlichen unter Strafe gestellt, und zwar gleichberechtigt: nicht nur für Männer, auch für Frauen. Der Paragraph wurde im Jahre 1988 gestrichen. Die BRD übernahm zunächst die NS-Fassung; erst 1969 und 1973 kam es zu Reformen, mit der sozialdemokratischen Reformpolitik. Für das Gebiet der BRD erfolgte die ersatzlose Streichung 1994, vier Jahre nach der deutschen Vereinigung.

Derartige Veränderungen der Rechtspolitik ließen sich auch für andere Länder darstellen. Nachdem die Strafbarkeit entfallen war, folgte eine Phase des Erkämpfens gesellschaftlicher Akzeptanz für gleichgeschlechtliche Partnerschaften und schließlich des Kampfes um die Anerkennung ihres Status’ als „eingetragene Partnerschaften“ beziehungsweise ihres Rechtes, eine Ehe zu schließen. Gesondert umkämpft ist in vielen Ländern das Recht gleichgeschlechtlicher Paare auf Adoption von Kindern.

Durchbrüche erfolgten zunächst in jenen Ländern, die den höchsten Grad an Frauen-Emanzipation erreichten. Dänemark war 1989 das erste Land, in dem die standesamtliche Verbindung von gleichgeschlechtlichen Paaren zugelassen wurde – „registrierte Partnerschaften“. Das erste Land, in dem die Institution Ehe für Menschen gleichen Geschlechts geöffnet wurde, waren 2001 die Niederlande. Es folgten 2003 Belgien, 2005 Spanien, später Norwegen, Schweden, Island, Portugal, Dänemark, Frankreich, Luxemburg, Großbritannien, Finnland. In Spanien und Portugal haben sozialistische Regierungen die gleichgeschlechtliche Ehe gegen den wütenden Widerstand der konservativen Parteien und der Kirchen durchgesetzt, ähnlich 2015 in Irland. Deutschland folgte 2017, Österreich 2019, die Schweiz 2020. In Europa sind es derzeit 16 Staaten.

In Tschechien und Estland gibt es die eingetragene Partnerschaft, aber keine Ehe. In Ungarn ist bereits in der konservativen Verfassung von 2012 geregelt: „Ungarn schützt die Institution der Ehe als eine aufgrund einer freiwilligen Entscheidung zwischen Mann und Frau zustande gekommene Lebensgemeinschaft.“ In Kroatien hat bei einem Volksentscheid am 1. Dezember 2013 eine Mehrheit gegen die „Homo-Ehe“ gestimmt. Verboten ist sie in den EU-Ländern Polen, Lettland, Litauen und Bulgarien sowie in Serbien, Montenegro, Moldawien, Belarus und der Ukraine. Die restriktive Politik Russlands in Sachen Homosexualität ist immer wieder Gegenstand politischer Anwürfe, insbesondere von Seiten des Westens. Sie ist jedoch Teil einer konservativen politischen Gesamtkonzeption. Weder Anerkennung noch Verbot gleichgeschlechtlicher Verbindungen gilt in Italien, der Slowakei, Griechenland, Zypern, Rumänien, Mazedonien, Bosnien, Albanien und der Türkei.

Betrachtet man dies in Bezug auf die Tiefenschichten der kulturellen Prägungen, dann sind Religion und ein Alltagsverständnis, was rechtens sei, von wesentlicher Bedeutung. Da trifft man bei den post-sowjetischen Republiken auf die Tradition drastischer Verfolgung Homosexueller in der Sowjetunion. Die steht wiederum in der Tradition der Feindschaft von Seiten der christlichen Kirchen, die bei den orthodoxen Kirchen beziehungsweise der katholischen Kirche besonders ausgeprägt ist. In der muslimischen Welt ist die Nichtanerkennung in der Türkei noch die freundliche Variante. Üblich sind harte Strafen für homosexuelle Handlungen, die bis zur Todesstrafe in Iran und Saudi-Arabien reichen, ersatzweise öffentliches Auspeitschen.

Insofern ist, wenn wir auf die Folie der Frauen-Emanzipation die der ungehinderten Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Lebensführung legen, der Kreis der Länder nochmals kleiner. Und er ist tatsächlich auf den überwiegend oder stark säkularisierten und von der Aufklärung geprägten Teil Europas konzentriert. Wenn wir also trotz Globalisierung und Internet die Frage nach der Frauen-Emanzipation und den Rechten gleichgeschlechtlicher Paare stellen, erweist sich, dass wir es offensichtlich mit unterschiedlichen Kulturkreisen zu tun haben. Die dem zugrunde liegenden Bruchlinien unterscheiden sich von anderen, auch sprachlich-kulturellen. Eine davon geht mitten durch die Europäische Union. Orbán hat die nicht geschaffen, sondern instrumentalisiert sie.