24. Jahrgang | Nummer 12 | 7. Juni 2021

Wirtschaft und Demokratie

von Jürgen Leibiger

In meinem Blättchen-Beitrag über das „Gespenst der Vermögensteuern“ vor einigen Wochen hatte ich darauf hingewiesen, dass die Einkommens- und Vermögensverteilung auch Auswirkungen auf die demokratische Verfasstheit des Landes hat, was sich in der Wahlbeteiligung verschiedener sozialer Gruppen und deren Chance äußere, ihre jeweiligen Interessen in den Parlamenten durchzusetzen. „Ziemlich weit hergeholt“ war der Kommentar eines Bekannten dazu. Die Rede von einer „Krise der Demokratie“ sei völlig überzogen. Die Demokratieentwicklung der Bundesrepublik sei zwar nicht makellos, aber im internationalen Vergleich geradezu vorbildlich.

Natürlich ist ein solcher Vergleich denkbar und er fiele für die Bundesrepublik womöglich gar nicht so schlecht aus. Nichtsdestotrotz geben einige Tendenzen Anlass zu ernster Besorgnis selbst dann, wenn der Demokratiebegriff in der gemeinhin üblichen, sehr engen Fassung als parlamentarischer Demokratie verwendet wird. Der jüngste, eben beschlossene sechste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung (ARB) enthält auch Daten zur politischen Partizipation verschiedener Bevölkerungsgruppen. Der Befund ist eindeutig. Bei allgemein sinkender Wahlbeteiligung geht sie bei den unteren Einkommensgruppen, wo sie schon immer niedriger als im Durchschnitt war, am weitesten zurück. Und zwischen Arbeitslosenquote, Armutsquote und Wahlbeteiligung besteht auch bei territorial differenzierender Analyse eine signifikante Korrelation. Der ARB verweist auf einen stabilen Zusammenhang zwischen Einkommensungleichheit und Wahlbeteiligung auch in anderen Ländern. In 21 OECD-Mitgliedsstaaten ist die Wahlbeteiligung dort am geringsten, wo die Ungleichheit am größten ist und überall ist die Beteiligung an den Wahlen bei den untersten Gruppen der Einkommensbezieher am geringsten. Werden Analyseergebnisse über den Einfluss verschiedener sozialer Gruppen in den Parlamenten und auf die Gesetzgebungsverfahren berücksichtigt, erhärtet sich die Diagnose einer von den Verteilungsverhältnissen bestimmten wachsenden Unwucht in der Partizipation und Durchsetzungskraft bei politischen Entscheidungsprozessen. Es lässt sich drehen und wenden wie man will: Die asymmetrische Machtverteilung geht mit der Herrschaft einer Klasse, einer ökonomisch-politischen „Elite“ oder Schicht einher.

Ja, aber Deutschland habe doch auch ein weithin gelobtes System der Sozialpartnerschaft als die Grundlage für eine demokratische Teilhabe auf der Ebene von Betrieb und Unternehmen. In den USA werde auch deshalb vom „sozialistischen“ Deutschland mit sogar „kommunistischen“ Zügen gesprochen. Ein genauerer Blick offenbart freilich auch hier unverkennbare Fehlentwicklungen bei dieser Teilhabe. Die Mitbestimmungsrechte sind zwar ausgebaut worden und das gerade eben vom Bundestag verabschiedete Betriebsrätemodernisierungsgesetz sollte bei aller Beschränktheit ebenfalls in diese Richtung wirken. Es scheint also gar keinen Grund zur Klage zu geben. Aber während Regierung und Parlament an einigen Stellschräubchen drehen, wird der Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen. Will heißen, die Wirklichkeiten von Tarifbindung und Mitbestimmung sind rückläufig. Seit 1996 ist der Anteil der Beschäftigten in Betrieben mit Tarifbindung in Westdeutschland von 70 Prozent auf 46 Prozent zurückgegangen; für den Osten lauten diese beiden Zahlen 56 und 34 Prozent. Nur noch rund 40 Prozent der Beschäftigten arbeiten im Westen in Betrieben mit einem Betriebsrat, dieser Anteil lag Mitte der 1990er Jahre noch bei 52 Prozent. Im Osten sanken diese Prozentsätze von 43 auf 35. Die Anzahl der paritätisch mitbestimmten Aufsichtsräte ist in den vergangenen zwanzig Jahren fast kontinuierlich kleiner geworden. Systematisch suchen Unternehmensführungen und ihre juristischen Berater nach Rechtslücken, um Mitbestimmung zu vermeiden und in nicht wenigen Fällen werden die Rechtsvorschriften gleich gar nicht eingehalten. Und wo kein Kläger ist, ist auch kein Richter.

Wie ist ein solcher Demokratieabbau möglich? Ein entscheidender Punkt zeigt sich in der anhaltenden Schwächung der Gewerkschaften. Obwohl der Deutsche Gewerkschaftsbund nach einer Phase sinkender Mitgliederzahlen wieder mehr Stabilität erreicht hat, ist angesichts der langfristig wachsenden Zahl abhängig Beschäftigter der Organisationsgrad von einem Maximum bei 35 auf unter 15 Prozent gesunken. Die Kampfkraft derjenigen, die zuallererst an mehr Wirtschaftsdemokratie interessiert sind, ist damit entscheidend geschwächt, zumal ihr auch der Grundsatz der Sozialpartnerschaft nicht immer zuträglich war. Aber in dieser Entwicklung kommen gar nicht so sehr etwaige Fehler gewerkschaftlicher Interessenvertretung zum Ausdruck, sondern ein tiefgreifender wirtschaftlicher Strukturwandel. Branchen mit einem hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad verloren an Gewicht, neue Branchen ohne solche Traditionen vor allem im Dienstleistungsbereich gewannen hinzu. Auch der wachsende Anteil weiblicher an der Gesamtzahl der Arbeitnehmer dürfte nicht ohne Einfluss sein. Frauen sind häufiger teilzeitbeschäftigt und haben mehr erziehungsbedingte Auszeiten; ihre Möglichkeit, sich gewerkschaftlich zu organisieren, ist niedriger als bei Männern. Neue, mit der Digitalisierung verbundene Formen der Arbeitsorganisation und die Fragmentierung von Belegschaften erschweren die Bündelung kollektiver Interessen. Die Globalisierung verstärkt diesen Prozess weiter. Die Installation Europäischer Betriebsräte ist zwar möglich, aber schon wegen der sprachlich-kulturellen und institutionellen Unterschiede schwierig. Darüber hinaus wird der Internationalisierungsprozess der Produktionsstrukturen damit nicht annähernd abgedeckt. Eine adäquate Antwort auf diese Entwicklungen haben die Gewerkschaften wohl noch nicht gefunden. Und wo immer das möglich ist, werden sie dabei von ihren „Sozialpartnern“ behindert.

Aber auch die den abhängig Beschäftigten traditionell eigentlich nahestehenden Parteien haben die Gefahren für die Demokratie unterschätzt oder überhaupt nicht wahrgenommen. Bündnis 90/Die Grünen waren vor vornherein auf andere Fragen fokussiert und die von der SPD forcierten Arbeitsmarktreformen lagen nicht im Interesse der Arbeitnehmer; sie stärkten die Kapitalseite. Auch die Vorgängerpartei der Linken, die „Kümmerer“ der PDS, war zunächst vor allem mit den Problemen des Anschlusses der neuen Länder und weniger mit Fragen des Konflikts zwischen Arbeit und Kapital befasst und von Gewerkschaften hatten die in der DDR sozialisierten Arbeitnehmer überhaupt erstmal die Nase voll. Als der Zusammenschluss mit der westdeutschen, gewerkschaftsnahen WASG zur Partei DIE LINKE erfolgte, schien sich zwar eine Schwerpunktverlagerung anzudeuten, tatsächlich aber blieb die Verankerung in den Gewerkschaften gering. Ob sich das mit dem erst vor wenigen Wochen (!) auf Initiative der Bundesarbeitsgemeinschaft Betrieb & Gewerkschaft gegründeten Gewerkschaftsrat dieser Partei ändert, bleibt abzuwarten. Vielsagend war die Begründung der Bundessprecherin der Arbeitsgemeinschaft: „Gewerkschaften sind der Gegenentwurf zur Milieudebatte“. Auch Thomas Piketty zeigt in seinem Buch „Kapital und Ideologie“, wie sich in allen entwickelten Ländern die Repräsentation traditioneller Arbeiterkreise in linken Parteien und den Parlamenten massiv verringert hat.

Wirtschaft und Demokratie sind von der Schwäche der Arbeitnehmerseite essentiell betroffen. Versteht man unter „Wirtschaft“ nicht, wie es zumeist erfolgt, nur die Unternehmer- sondern auch die Arbeiterseite, so entsteht ein fehlerhafter Kreislauf: verringerte Durchsetzungskraft – weniger Wirtschaftsdemokratie; weniger Wirtschaftsdemokratie – Verlust an Kampfkraft und Einfluss. Die Kapitalseite und ihre politischen Interessenvertreter haben die Gelegenheit, ihre Position zu stärken, nicht nur dankbar ergriffen, sondern aktiv geschaffen und forciert. Die Erosion der Mitbestimmung, die Krise der parlamentarischen Demokratie und das allgemein sinkende Vertrauen gegenüber den politischen Mandatsträgern haben für die demokratische Verfasstheit des Landes erhebliche Auswirkungen. Wirtschaft und Demokratie lassen sich nicht voneinander trennen.