24. Jahrgang | Nummer 12 | 7. Juni 2021

Staatsräson?

von Peter Petras

Vom 10. bis 21. Mai wurde erneut ein Nahost-Krieg geführt. Der wievielte? Nach dem vorvorigen fand in Potsdam eine öffentliche Debatte statt. Da meldete sich ein alter Professor, der zu DDR-Zeiten am Potsdamer Institut für Internationale Beziehungen zum Nahen Osten gearbeitet hatte. Der sagte, er habe gerade seine alten Studien wieder vorgeholt und nachgelesen, was er damals zu Ursachen und möglichen Friedenslösungen aufgeschrieben hatte. Es stimme alles noch.

In den deutschen „Qualitätsmedien“ war jetzt von einem „Konflikt zwischen Israel und Gaza“ die Rede. Was darauf abhob, dass die „Terror-Organisation“ Hamas aus dem Gaza-Streifen heraus Israel angegriffen hatte, und es sich nicht um einen neuerlichen Nahost-Krieg handelte. Tatsächlich ist es nicht Sache der westlichen Medien zu entscheiden, wer für wen spricht oder kämpft. In Afghanistan steht die „Terror-Organisation“ Taliban wieder vor den Toren Kabuls, um nach dem Abzug der US-Truppen dort wieder einzuziehen. Mit denen hatte man jahrelang nicht reden wollen; in Deutschland musste ein SPD-Vorsitzender das Feld räumen, weil er entgegen dem damaligen Komment vorgeschlagen hatte, mit den Taliban zu reden, um das Land zu befrieden. Um ihren Abzug vorzubereiten, hatten die USA mit denen verhandelt, ohne ihre „Verbündeten“ zu fragen. Am Ende ist es wohl eine Frage des militärischen Kräfteverhältnisses.

Und der politischen Vernunft. Nach dem sogenannten 2. Libanonkrieg, als israelische Truppen im Juli 2006 in den Süden Libanons eingedrungen waren, um die islamistische Hisbollah-Organisation zu bekämpfen, die ebenfalls als Terrororganisation gilt, schrieb der berühmte Historiker Immanuel Wallerstein: „Die Regierung in Jerusalem gesteht sich nicht ein, dass weder Hamas noch Hisbollah Israel brauchen. Israel aber braucht sie, und das ganz dringend. Wenn es nicht ein Gebilde nach Art des durch Kreuzritter geschaffenen mittelalterlichen Königreichs Jerusalem werden möchte, das früher oder später getilgt werden wird, dann muss es hinnehmen, dass ihm nur Hamas und Hisbollah das Überleben garantieren können. Erst wenn sich Israel mit diesen tief in der Gesellschaft verwurzelten Sachwaltern des palästinensischen und arabischen Nationalismus zusammensetzt, kann es in Frieden leben.“

Davon will jedoch bis heute niemand etwas wissen. Hinzu kommt politische Unfähigkeit aus Eigennutz. Der rechtskonservative israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu scheiterte am 5. Mai 2021 zum vierten Mal in dem Bemühen, eine neue Regierung zu bilden. Auch nach der vierten Parlamentswahl innerhalb von zwei Jahren gab es keine klare Parlamentsmehrheit, weder für den Pro-Netanjahu-Block noch für dessen Gegner. Zugleich steht Netanjahu unter Anklage wegen Bestechlichkeit, Untreue und Betrug, weshalb er erst recht am Posten des Regierungschefs klebt. In dieser verfahrenen Situation deutete sich an, dass erstmals in der Geschichte Israels eine arabische Partei eine Regierung unterstützen könnte, worauf Unterstützer des Anti-Netanjahu-Blocks setzten. Ein „kleiner Krieg“ mit den Palästinensern musste das grundsätzlich verunmöglichen.

Umgekehrt liegt die Verhinderung eines solchen Schrittes auch in dringendem Interesse der Hamas, er würde ihrem harten Kurs gegen Israel zuwiderlaufen. Hinzu kommt der Streit der Hamas mit der Fatah-Partei. Deren Chef Mahmoud Abbas war in demokratischen Wahlen am 9. Januar 2005 zum Präsidenten der Palästinenser gewählt worden, mit 62,5 Prozent der abgegebenen Stimmen. Am 25. Januar 2006 fanden Wahlen zum „Palästinensischen Legislativrat“, dem Parlament für die palästinensischen Gebiete statt. Hier erhielt die Fatah nur 43 der 132 Sitze, die Hamas kam auf 76. Danach gab es Streit um die Umsetzung des Wahlergebnisses und Gewaltakte beider Seiten. Im Endergebnis übernahm die Hamas im Gaza-Streifen die Macht, im Westjordangebiet blieb die Fatah. Obwohl Präsident wie Parlament eigentlich eine Legislaturperiode von vier Jahren haben, fanden Wahlen seither nicht statt. Zwischenzeitlich verhaftete Israel einige palästinensische Funktionsträger. Neuwahlen zum Palästinensischen Legislativrat waren nun für den 22. Mai 2021 angesetzt. Die sagte Abbas am 29. April kurzerhand ab, Israel würde die Durchführung der Wahlen in Ost-Jerusalem behindern. Tatsächlich fürchten Abbas und die Fatah den Wahlsieg der Hamas auch im Westjordanland.

Für die Hamas wiederum waren Raketenangriffe auf Israel die symbolische Geste, sich als einzig wahrer Sachwalter der palästinensischen Sache zu präsentieren. Zuvor waren ultrarechte Israelis mit Sprechchören „Tod den Arabern“ durch Jerusalem gezogen, hatte die israelische Polizei Tausende arabische Pilger daran gehindert, zum Ramadan die Al-Aksa-Moschee in Jerusalem – eine der drei heiligsten Stätten des Islam – zu besuchen und waren israelische Siedlerorganisationen dabei, alteingesessene palästinensische Familien in Ost-Jerusalem aus ihren Häusern zu vertreiben. Umgekehrt hatten arabische Nationalisten israelische Zivilisten angegriffen und Synagogen niedergebrannt.

Es war dies die Lage, in der die Hamas beschloss, ab 10. Mai israelisches Gebiet bis nach Tel Aviv mit Raketen zu beschießen. Die waren offenbar in unterirdischen Anlagen im Gaza-Streifen hergestellt und zum Abschuss vorbereitet worden. Die Reichweite war größer als bei früheren Angriffen, in hoher Zahl konnten sie die israelische Raketenabwehr teilweise überwinden, was früher nicht gelang. Israel antwortete mit massiven Bomben- und Artillerie-Angriffen auf Ziele im Gaza-Streifen. Angeblich sollten nur Einrichtungen und Militärkommandeure der Hamas getroffen werden. Tatsächlich war es erneut ein „asymmetrischer“ Krieg. Bis zum Waffenstillstand am 21. Mai wurden 12 getötete Israelis und 248 getötete Palästinenser gemeldet, darunter 66 Kinder. Bei dem vorigen Krieg zwischen Israel und den Palästinensern im Gaza-Streifen 2014 gab es 67 Tote auf israelischer und etwa 2000 Getötete auf palästinensischer Seite. Bei dem Einsatz israelischer Streitkräfte gegen Ziele der Hamas im Gaza-Streifen Ende 2008, Anfang 2009 wurden 1300 tote Palästinenser gezählt, in Israel 13 Tote beklagt. Rein zahlenmäßig betrachtet kamen in diesen „asymmetrischen Kriegen“ 2009 auf einen toten Israeli 100 tote Palästinenser, 2013 30 und 2021 20. Beobachter bescheinigten Israel jetzt relative Zurückhaltung und weniger Kriegsverbrechen als früher.

Die Zeitung Die Welt zitierte am 19. Mai 2021 einen alten Satz der früheren israelischen Premierministerin Golda Meir (1969–74), die da meinte: „Frieden wird es geben, wenn die Araber ihre Kinder mehr lieben, als sie uns hassen.“ Unklar bleibt, was die deutsche Zeitung ihren Lesern damit mitteilen wollte. Hatten die israelischen Streitkräfte in diesem Jahr zu wenige arabische Kinder getötet? Das offizielle deutsche Verständnis des Nahostkonflikts ist durch Angela Merkels Diktum von der „Staatsräson“ zur Unterstützung Israels verengt. Es gab staatspolitisch und in den Großmedien nur Kritik an der Hamas, nicht aber an der Regierung Netanjahu. Und das, obwohl israelische Linke und Friedenskräfte genau dies von den Deutschen fordern. War die „Staatsräson“ an sich schon eine Verengung, weil Deutschland nun nicht mehr als „ehrlicher Makler“ zwischen beiden Seiten auftreten kann, wie es zu Zeiten der Vorgänger Merkels der Fall war, so wurde diese Position nochmals enggeführt, weil die „Unterstützung Israels“ auf die der israelischen Regierung verkürzt wird. Nachdem Donald Trump als Pate Netanjahus nicht mehr zur Verfügung steht, scheint Deutschland in diese Rolle zu schlüpfen. Indessen kamen aus Washington andere Töne. Die einflussreiche Abgeordnete der Demokraten Alexandria Ocasio-Cortez twitterte: „Ein Apartheid-Staat ist keine Demokratie“. Das ist ein Satz, der in Deutschland unter Antisemitismus-Verdikt gestellt wurde. Und US-Präsident Joe Biden forderte, dass nun endlich eine Zwei-Staaten-Lösung geschaffen werden müsse – was israelische Regierungen seit 1948 zu verhindern trachten.

Wie kommt es eigentlich zu dieser „Staatsräson“? Deutschland hat sechs Millionen Juden ermordet und ist deshalb verpflichtet, die israelische Regierung zu unterstützen, was immer sie tut? Deutschland trägt aber auch die Schuld am Tod von 27 Millionen Sowjetbürgern, darunter mindestens 14 Millionen Russen. Nach dieser Logik müsste Deutschland auch die Politik des Kremls unterstützen. Was immer er tut.