24. Jahrgang | Nummer 11 | 24. Mai 2021

Ein Staatsanwalt packt aus

von Reinhard Wengierek

Deutschlands Richter am Limit“, „Justiz vor dem Kollaps“ – an solche eigentlich unglaublichen Schlagzeilen haben wir uns längst gewöhnt. Dabei hat schon vor Jahren der damalige Bundesjustizminister de Maizière gewarnt: „Das Vertrauen in den demokratischen Rechtsstaat erodiert.“ Und ein solcher Staat ist bekanntlich, wir lernen es bereits in der Schule, das Rückgrat der Demokratie.

Zutiefst besorgt von höchst beängstigenden Rückgratschäden – wie beispielsweise die „zunehmende Festigung einer Paralleljustiz“ – schlägt jetzt der Berliner Oberstaatsanwalt Ralph Knispel Alarm mit seinem schockierenden Insider-Report „Rechtsstaat am Ende“.

Kleines Beispiel: Fahrraddiebstahl, den mag man abtun als Pillepalle. Doch allein in Berlin, das gern als Fahrrad-Hauptstadt posiert, wird alle 17 Minuten von Gelegenheitsdieben, Drogensüchtigen oder auch organisierten Banden mit der Gier auf schnelle Euros solch ein Gefährt gestohlen. Aufklärungsquote: 3,9 Prozent, deliktübergreifend liegt sie bei wenigstens 44,7 Prozent. Doch mehr als die Hälfte der (erwischten) Täter darf damit rechnen, für die Klauerei nicht belangt zu werden. Das macht Lust auf mehr.

Wer das noch ironisch abtut als urbanes Kleinganoventum, dem dürfte die Coolness vergehen etwa beim Blick auf die in den letzten Jahren sich vervielfacht habenden Wohnungseinbrüche in Berlin. Nur bei 15 Prozent der zumeist bandenmäßig organisierten Brüche werden Täter ermittelt. Nur in läppischen 2,6 Prozent der Fälle kommt es auch zu einem Gerichtsverfahren. Ein Einbrecher kann also zu 97,4 Prozent davon ausgehen, errechnet Knispel, unbestraft aus freiem Fuß zu bleiben. Geringes Restrisiko. Allein hier schon habe man den Eindruck, schreibt er mit verbittertem Augenaufschlag, dass der Rechtsstaat längst kapituliert habe.

Der Eindruck, es gäbe „eine Quasi-Legalisierung bestimmter Taten, also einen Freibrief für Täter“, verfestigt sich entsetzlicherweise beim Lesen der mit Fakten gesättigten gut 200 Seiten.

Ralph Knispel, Jahrgang 1960, seit 1996 am Moabiter Kriminalgericht, Europas größtem Strafgericht, und gegenwärtig Leiter der Abteilung Kapitalverbrechen („die Championsleague der Strafverfolgung“), Anwalt Knispel vermittelt quasi als Reporter in eigener Sache erschreckend detaillierte Innenansichten nicht nur vom Berliner Justiz- und Polizeibetrieb. – Seine Diagnose, das Grundproblem der Branche: „Jahrzehntelang systematisches Kaputtsparen“.

Politiker müssten der Bevölkerung endlich ehrlich sagen: „Leute, wenn ihr wollt, dass die Institutionen ordentlich funktionieren, dann kostet das richtig viel Geld.“ Zum Beispiel fehlt es laut Knispel allein schon an Raumkapazitäten, weshalb Prozesse aus Platzmangel nicht stattfänden, Fristen würden überschritten, Beschuldigte kämen frei – „da weicht das Recht dem Unrecht“. Eine Dramatik, die noch verschärft würde durch ungenügende technische Ausrüstung sowie notorisch gravierenden Personalmangel.

Obendrein rolle in den nächsten Jahren die Pensionierungswelle: Bundesweit würden mehr als 10.000 Staatsanwälte und Richter in den Ruhestand gehen; nach gegenwärtigem Stand wäre das nicht zu kompensieren. Ein Satz bringt alles auf den Punkt: „Wenn die Justiz lahmt, wird sie von den Beschuldigten überholt.“

Knispels erschreckende Einblicke in die Apparate, präzis und klar formuliert, werden aufschlussreich ergänzt: Da wären die speziellen Schwierigkeiten, erstklassiges, mithin anspruchsvolles Personal zu rekrutieren (der attraktive Konkurrent Wirtschaft schöpft ab; eine Traumkarriere beim Staat sehen viele nicht). Und da sei die große Fragwürdigkeit spezieller und doch schier unglaublicher Reformen des Strafgesetzbuchs, nach denen Kriminalität bekämpft werden soll, „indem man die Strafbarkeit beseitigt“.

Und: Es wuchert das Problem der sogenannten rückläufigen Konsequenz bei der Umsetzung von Gesetzen, von rechtskräftigen Gerichtsentscheidungen. Man verweist demagogisch auf „vermeintlich höherwertige Güter wie Moral, Religion, Menschlichkeit“, die so eine „übergeordnete Gerechtigkeit“ erlangten. – Ethik und Moral mögen, schreibt Knispel, zukünftige Gesetze beeinflussen. „Sie stehen aber trotzdem niemals über dem Recht“.

Knispel begreift seinen Beruf als Berufung. Das erklärt seine Leidenschaft nicht nur fürs Kritisieren der offensichtlich extrem desolaten und lange Zeit öffentlich verharmlosten Zustände, sondern zugleich fürs Aufzeigen von Möglichkeiten, dem abzuhelfen. Eine freilich bescheidene Grundlage dafür sei der 2017 im Koalitionsvertrag der Bundesregierung fixierte „Pakt für den Rechtsstaat“, der wiederum leider bloß schleppend realisiert werde. Warum bloß? Schließlich sei eine funktionierende Justiz keine Nebensächlichkeit, sondern Voraussetzung für Freiheit.

Doch die Zeit für politische Lippenbekenntnisse, die sei mittlerweile vorbei; die öffentliche Meinung habe sich geändert. Und auch wir finden es verantwortungslos, womöglich noch immer vermeintlich kämpferisch gegen „Law and Order“, gegen die Staatsmacht zu schimpfen. – „Recht und Ordnung“ ist ein Kernthema und muss fest verankert bleiben nicht nur in der Mitte der Gesellschaft. Knispel optimistisch: „Das haben mittlerweile sehr viele Leute verstanden.“ – Wir wünschen gerade auch dem Berliner Justizsenator eine nachdenklich stimmende Lektüre.

Ralph Knispel mit Heike Gronemeier: „Rechtsstaat am Ende“. Ullstein, Berlin 2021, 238 Seiten (im Anhang Statistiken), 22,29 Euro.