Am Freitag, den 23. April, trafen sich Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der Schweizerische Bundespräsident Guy Parmelin in Brüssel, um in der verfahrenen Situation in Sachen Vertragsbeziehungen zwischen der Europäischen Union und der Schweiz doch noch eine Lösung zu erreichen. Bald darauf sprach Parmelin von fortbestehenden „fundamentalen Differenzen“.
Die Beziehungen regeln bisher zwanzig bilaterale Abkommen und über 100 weitere Verträge. Die EU stellte sich vor zehn Jahren jedoch auf den Standpunkt, den Zugang der Schweiz zum EU-Binnenmarkt nur noch zu gewährleisten, wenn ein Rahmenabkommen geschlossen werde, mit dem institutionelle Fragen übergreifend geregelt werden, darunter ein verbindlicher Streitregelungsmechanismus. Der Schweizerische Bundesrat verabschiedete im Dezember 2013 ein Verhandlungsmandat, der EU-Rat im Mai 2014.
Die Schweizer Stimmbürger hatten im Dezember 1992 den Beitritt des Landes zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) abgelehnt, gegen den ausdrücklichen Willen des Bundesrates (der Schweizerische Regierung), des Nationalrates (Parlament) und der Mehrheit der großen Parteien (siehe meinen Text in Das Blättchen 16/2016). Damit war auch der Antrag auf Aufnahme in die EU erledigt. Die Schweiz Brüssel zu unterstellen, so die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei (SVP), würde ihrer seit 1648 geübten Tradition der Unabhängigkeit und Neutralität widersprechen. Prompte Reaktion aus der EU war: die Schweizer sollten nicht glauben, sich „die Rosinen aus dem Kuchen herauspicken zu können“. Ein Satz, den wir aus dem Mund deutscher Politiker und Brüsseler Ober-Bürokraten zum Thema Brexit in den vergangenen Jahren unzählige Male gehört haben.
Der verhandelte Vertragsentwurf liegt seit 2018 auf dem Tisch. In der Schweiz wurde dann klargestellt, dass das so nicht umsetzbar sei – ein solcher Vertrag muss gemäß den Regeln der Schweizer direkten Demokratie in einem Referendum bestätigt werden. Da war den Regierenden nun gewärtig, dass der vorliegende Vertrag, den die Mehrheit insbesondere der Wirtschaft wollte, eine Volksabstimmung nicht überstehen würde. Die Schweiz forderte Nachverhandlungen, die EU war dazu nicht bereit, lediglich zu „Klarstellungen“, die jedoch etwas anderes sind, als Paragraphen im Vertrag. Es waren zunächst drei Punkte, um die es ging: Lohnschutz, also die Gewährleistung der hohen Löhne in der Schweiz, ohne Dumpinglöhne aus EU-Ländern, was vor allem die Gewerkschaften fordern; staatliche Beihilfen in nationaler Entscheidung; die Übernahme der „Unionsbürgerrichtlinie“ der EU.
Die Schweiz beharrt darauf, dass sie 1999 lediglich eine regulierte Freizügigkeit vertraglich vereinbart hat. Diese betrifft Arbeitskräfte und deren Familienangehörige sowie Rentner und Studenten, die für sich selber sorgen können. Die EU hat aber inzwischen die Regeln verändert, die Freizügigkeit gilt jetzt über die Arbeitswelt hinaus. Nach der Unionsbürgerrichtlinie könne nun – so schweizerische Verwaltungsexperten – ein EU-Bürger, der ein Jahr in der Schweiz gearbeitet hat, ein grundsätzlich unbeschränktes Aufenthaltsrecht inklusive Sozialhilfe in Anspruch nehmen, sofern er weiter als arbeitssuchend gilt. Nach fünf Jahren hätte er, mitsamt Familie, ein Daueraufenthaltsrecht. Nach Schweizerischer Rechtsauffassung ist Fürsorgeabhängigkeit ein Hinderungsgrund für das Daueraufenthaltsrecht, für die EU nicht. So verlangt diese nun von der Schweiz die Übernahme ihres Rechts. Die Erweiterung der EU-Freizügigkeit wurde damit begründet, „das Gefühl der Unionsbürgerschaft“ zu stärken. Pirmin Bischof, Mitglied des Ständerates der Schweiz (das ist die zweite Kammer des Parlaments, die Vertretung der Kantone), sagte dazu: „Der Schweiz war 2013 nicht bekannt, mit welcher Hartnäckigkeit und Ideologie die EU ihr künftige Veränderungen aufs Auge drücken möchte.“
Im Laufe der Debatten um das Rahmenabkommen kristallisierte sich ein vierter Punkt als entscheidend heraus. Das Streitschlichtungsverfahren sieht zwar ein paritätisch besetztes Schiedsgericht vor. Das müsste jedoch, sobald es um die Auslegung von EU-Recht geht, den Europäischen Gerichtshof anrufen. Schweizerische Patrioten und Verfassungsrechtler sehen hier die angestammte Schweizer Verfassungsordnung ausgehebelt, weil – würde das Rahmenabkommen in Kraft gesetzt – die Letztentscheidung nicht mehr der Schweizer Stimmbürger in der Volksabstimmung hätte, sondern der EuGH.
Vor diesem Hintergrund war die Wahrnehmung des Brexit-Vertrages von besonderem Interesse. Die Informationsplattform Swissinfo schrieb Ende 2020: „In der Schweiz ist man eifersüchtig auf den Brexit-Deal.“ Dann weiter: „Freier Handel ohne EU-Mitgliedschaft. […] Den Briten ist es zudem gelungen, der EU den Europäischen Gerichtshof (EuGH) als Schiedsgericht auszuschwatzen. Stattdessen soll ein partnerschaftlich zusammengesetztes Gremium über Streitigkeiten entscheiden. Und der Brexit-Deal umfasst keine automatische Übernahme von EU-Recht.“ Es folgte die rhetorische Frage: „Hat Großbritannien besser verhandelt als die Schweiz?“
Genau diesen Eindruck bekämpft nun die EU-Bürokratie mit aller Macht. Am 27. April 2021 bestätigte das EU-Parlament das Post-Brexit-Abkommen mit übergroßer Mehrheit, mit 660 der 697 abgegebenen Stimmen. Gleichwohl gilt der Ärger über London angesichts des EU-Austritts parteiübergreifend als groß, man mokiert sich weiter über die Regierung von Boris Johnson. Sie habe die vereinbarten Warenkontrollen zwischen Großbritannien und Nordirland einseitig ausgesetzt. Aus Sicht der EU sei dies ein Bruch des Austrittsvertrages, den Johnson persönlich ausgehandelt und unterschrieben hatte. „Früher war britische Diplomatie für mich ein Symbol der Glaubwürdigkeit“, betonte Manfred Weber, Fraktionschef der europäischen Christdemokraten. „Wenn wir aber sehen, wie sich Boris Johnson in Nordirland verhält, dann ist die Botschaft: ‚Was interessiert mich meine Unterschrift!‘ Das ist das neue Großbritannien, das wir als Partner an unserer Seite haben.“ Das Handels- und Partnerschaftsabkommen sieht bei Verstößen ausdrücklich Sanktionsmöglichkeiten vor. Die EU könnte im Streit um die Warenkontrollen Produkte aus Großbritannien mit Strafzöllen belegen. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen meinte: „Dieser Vertrag hat echte Zähne.“
Der Punkt ist nur, unter Verweis auf das sogenannte Karfreitagsabkommen zur Befriedung des Bürgerkrieges in Nordirland (Das Blättchen 16/2019) sollte die Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland ohne Zollschranken bleiben, dafür aber eine faktische Zollgrenze zwischen der britischen Insel und Irland geschaffen werden. Dagegen laufen die nordirischen Unionisten Sturm, deren Kinder sind gerade dabei, einen neuen Konflikt gegen die irischen Republikaner anzufachen. Die EU ist aber nicht bereit, die Eskalation in Richtung Bürgerkrieg zu bremsen, indem sie beispielsweise auf die strikte Handelsgrenze in der Irischen See verzichtet. Es reichte ja faktisch, indem man Johnsons Suspendierung der entsprechenden Bestimmungen stillschweigend akzeptiert.
Frau von der Leyen und Herr Weber haben aber gerade das Gegenteil bekundet. Damit entsteht der Eindruck, dass man lieber einen neuen Bürgerkrieg in Nordirland anfachen möchte, um Johnson und die Briten für den Brexit zu bestrafen, als weltpolitische Vernunft walten zu lassen. Insofern sind die Schweizer jetzt ein Bauernopfer. In der ganzen EU und gegenüber deren Föderaten (die nicht Mitglied der EU, aber von ihr abhängig sind) soll weiter exempliziert werden, dass jeder bestraft wird, der Brüssel – und damit vermittelt Berlin – nicht gehorcht.
In der Star Wars-Saga grüßen sich die Yedi-Ritter mit: „Die Macht sei mit dir.“ Bei der EU gilt: Die Macht ist mit mir.
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