19. Jahrgang | Nummer 16 | 1. August 2016

Der Brexit, die Demokratie und die Schweiz

von Erhard Crome

In einer Debatte um die Gleichberechtigung der Rassen und die Abschaffung der Sklaverei argumentierte Abraham Lincoln einst so: „Sie sagen, es sei eine Frage der Hautfarbe? Seien Sie vorsichtig! Dann kann jeder Sie zum Sklaven machen, der eine hellere Haut hat als Sie. Sie sagen, es sei eine Frage der Intelligenz? Seien Sie vorsichtig! Dann kann jeder Sie zum Sklaven machen, der klüger ist als Sie.“
Ein Teil der Interpreten des Brexit argumentiert genauso wie jene, die Lincoln im Visier hatte: Das ungebildete britische Volk habe über etwas abgestimmt, wovon es nichts verstehe.
Das mag sein. Aber das moderne Prinzip der Demokratie besteht ja gerade darin, dass alle erwachsenen Bürgerinnen und Bürger über die öffentlichen Angelegenheiten bestimmen können, ohne Ansehen der Hautfarbe, des Geschlechts, der Religion und auch ohne Ansehen der Bildung. Ausnahme sind lediglich Personen, denen ihre staatsbürgerlichen Rechte wegen schwerer psychischer Erkrankungen per Gericht und auf Grundlage ärztlichen Befundes aberkannt sind. In Ländern wie Indien dürfen ausdrücklich auch Analphabeten abstimmen. Das ist eine demokratische Errungenschaft. Zugleich ist es ein beliebtes Argument der Reichen und Superreichen, dass das Volk über Fragen der Wirtschaft möglichst nichts entscheiden können soll. Die Themen der EU-Verfasstheit sind ein Teil dessen. Deshalb fordern die Befürworter weiterer EU-Integration in aller Regel, diese dem Zugriff des Souveränitätsrechtes der Völker zu entziehen und auf der Grundlage von Expertenentscheidungen voranzutreiben. Wir haben es hier mit einer Art von „Philosophenkönigtum“ zu tun, das bereits Platon für eine gute Sache hielt, das jedoch stets in autoritäre Herrschaft, Anmaßung selbsternannter Weltbeglücker, Willkür und Mord mündete. Eine Form war die „Diktatur des Proletariats“, aus der dann die Diktatur der allwissenden Partei, dann die des Politbüros und schließlich die des Generalsekretärs wurde. In diesem Sinne gilt weiter Winston Churchills Satz: „Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen – abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind.“ Die Brexit-Entscheidung bestätigt dies, liefert aber keine ernsthaften Argumente für „all die anderen Formen“. Auch nicht für eine Technokratenherrschaft in Brüssel.
Die jetzige Aufregung um den Brexit ist jedoch nicht neu, nicht einmal in der Wortwahl. Am 6. Dezember 1992 fand in der Schweiz eine Volksabstimmung über den Beitritt des Landes zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) statt. Dieser war Anfang der 1990er Jahre als Verknüpfung zwischen der EU und den „Rest-EFTA-Staaten“ (siehe meinen Text zum Brexit im Blättchen 7/2016) verhandelt worden und musste in der Schweiz mit Volksentscheid bestätigt werden. Der Bundesrat (die Schweizerische Regierung), der Nationalrat (das Parlament) und die Mehrheit der großen Parteien befürworteten den EWR-Beitritt. Da der Bundesrat mit einer Zustimmung rechnete, stellte er bereits Anfang 1992 einen Antrag auf Aufnahme in die EU; der EWR-Beitritt sollte nur ein Zwischenschritt auf dem Wege in die EU sein. Lediglich die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei (SVP) unter ihrem Vorsitzenden Joseph Blocher forderte ein Nein; die Schweiz Brüssel zu unterstellen, würde ihrer seit 1648 geübten Tradition der Unabhängigkeit und Neutralität widersprechen. Die Nein-Kampagne erbrachte eine Ablehnung von 50,3 Prozent der Wähler und ein „Ständemehr“ (eine Ablehnung in der Mehrheit der Kantone) von 16 zu sieben. Die Stimmbeteiligung lag bei 78,7 Prozent. Das ist die bis heute höchste Beteiligung an einer Schweizer Volksabstimmung seit Anfang der 1990er Jahre.
Die erste Reaktion aus der EU war: Die Schweizer sollten nicht glauben, sich, wie die Zeitschrift Der Bund damals schrieb, „die Rosinen aus dem EWR-Kuchen herauspicken zu können“. Eben dieselben Worte, die Angela Merkel nach dem Brexit benutzte. In der Schweiz kam auch damals das Demokratie-„Argument“: Höchstens 50 Leute im Lande verstünden, worum es ginge, 500 würden es ahnen, aber abgestimmt hätten Millionen, bar jeder Ahnung. Bundesrat Arnold Koller von den Schweizerischen Christdemokraten sagte dazu im Mai 1993: „Oft wird gesagt, das Volk sei zu wenig informiert gewesen. Ich halte dies für falsch. Im Gegenteil, es gab eine große Fülle an Medienberichterstattung […]. Nein: das Volk wusste, worum es ging! Der Mangel war nicht die Information, sondern die Kommunikation, das Eingehen auf die Ängste und Zweifel vieler Bürgerinnen und Bürger.“ Entscheidend sei „das Ernstnehmen der emotionalen Gründe, die ein Volk bei solchen grundlegenden Entscheiden bewegen. Rein rationale Antworten und Begründungen taugen dafür nicht.“ Offenbar haben die europäischen „Eliten“ seither nichts dazugelernt.
Nach dem Entscheid gegen den EWR-Beitritt hieß es ebenfalls, alle Beteiligten, vor allem aber die Schweiz als schwächere Seite im Verhältnis zur EU, würden sich deutlichen wirtschaftlichen Nachteilen gegenübersehen. 1999 wurden schließlich sieben grundsätzliche bilaterale Abkommen zwischen der Schweiz und der EU geschlossen, 2004 weitere neun; insgesamt bestehen derzeit 120 sektorspezifische bilaterale Abkommen, die den Vereinbarungen im EWR entsprechen. Zwanzig Jahre nach der Abstimmung, im Jahre 2012, ergaben Umfragen in der Schweiz, dass 54 Prozent das damalige Abstimmungsresultat positiv einschätzen; die Ablehnungsquote ist also nicht gesunken, sondern gestiegen.
Während in den 1990er Jahren das Wirtschaftswachstum in der Schweiz niedriger lag als in der EU, ist es heute umgekehrt. Anfang der 1990er Jahre herrschte auch aus Schweizer Sicht in der EU eine dynamische Aufbruchsstimmung, heute sprechen Euro-Krise, drohende Staatsbankrotte in EU-Staaten und Massenarbeitslosigkeit gegen einen Beitritt. 2012 meinten noch 11,5 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer, ein EU-Beitritt sei eine gute Idee. Eine Woche vor dem Brexit wurde der Bundesrat beauftragt, das „Beitrittsgesuch“ aus Brüssel zurückzuholen; offiziell soll das zum 1. August 2016 vollzogen werden. Das ist der Nationalfeiertag der Schweiz.
Die SVP wurde nach 1992 stärkste Partei in der Schweiz und gilt heute als „rechtspopulistisch“, mit etwa 30 Prozent Wähleranteil und 65 von 200 Sitzen im Nationalrat. Ihr neuester Erfolg war die Volksinitiative „Gegen Masseneinwanderung“, die am 9. Februar 2014 eine Zustimmung von 50,3 Prozent bei einer Stimmbeteiligung von 56,6 Prozent erzielte. Dies zog eine Verfassungsänderung nach sich, die von der EU als Verstoß gegen „das Prinzip des freien Personenverkehrs zwischen der Europäischen Union und der Schweiz“ angesehen wird. Der damalige Kommissionspräsident Manuel Barroso erklärte, die Schweiz könne nicht die Vorteile des weltgrößten Marktes genießen, ohne im Gegenzug den freien Zugang für EU-Bürger zu gewährleisten. Das klingt heute in Bezug auf Großbritannien ebenso.
Nachdem verschiedene Abkommen zwischen der Schweiz und der EU seit 2014 blockiert sind, trafen sich Kommissionpräsident Jean-Claude Juncker und Bundespräsident Johann Schneider Ammann am Rande des Europa-Asien-Gipfels in Ulan-Bator am 16. Juli 2016. Eine rasche Lösung ist nicht in Sicht, die Gespräche zwischen Brüssel und Bern sollen intensiviert werden, und es heißt, die EU-Kommission sei bereit, eine Lösung mit der Schweiz unabhängig von der Brexit-Problematik ins Auge zu fassen. Gleichzeitig hat Juncker wohl deutlich gemacht, er sei nicht sicher, ob die Mitgliedsstaaten eine Lösung mit der Schweiz stützen würden, bevor das Brexit-Problem gelöst ist. Im Klartext: Die EU-Kommission sieht sich durch den Brexit politisch geschwächt und will nicht, dass durch die Verhandlungen mit der Schweiz Präzedenzfälle entstehen, auf die sich die Briten dann berufen könnten. Da aus Schweizer Sicht das Verhältnis zur EU in Sachen Volksinitiative „Gegen Masseneinwanderung“ so allerdings rechtlich ungeklärt bleibt, setzt die bürgerliche Nationalratsmehrheit auf eine einseitige Umsetzung: Diese müsse laut Verfassung bis 8. Februar 2017 erfolgen. Was mit dem Freizügigkeitsabkommen kompatibel sei, habe das eidgenössische Parlament selbst zu entscheiden, heißt es aus Bern, auch um den Preis eines fortgesetzten Konflikts mit Brüssel.